Irgendwann las ich, dass Kurzgeschichten in Japan eine hoch angesehene literarische Form seien. Nanae Aoyama scheint eine jener Autorinnen zu sein, die sich in dieser Kategorie offenbar nicht nur zu Hause fühlen, sondern auch den richtigen Ton treffen und ihre Leser mit den Geschichten begeistern. Oder auch mit nicht ganzen Geschichten, mit „Bruchstücken“. Diesen Titel bekam die aktuelle Kurzgeschichtensammlung nicht von ungefähr. Namensgebend ist nicht nur die titelgebende Geschichte (die auch im Japanischen Fragmente oder Bruchstücke bedeutet); passend wäre die Bezeichnung auch für die beiden Geschichten Farinas Zimmer und Wildkatzen. Allesamt sind es Momentaufnahmen aus dem Leben junger Japaner. Die Geschichten lösen sich aber am Ende allesamt mit unbestimmtem Ziel auf. Das Leben geht weiter, der Leser durfte die Protagonisten einen kurzen Moment begleiten – ausgezeichnet mit dem angesehenen Yasunari Kawabata Literary Prize.
Bruchstücke erzählt zunächst von Familie Endo. Geplant war ursprünglich ein Familienausflug zum Kirschenpflücken, aber ein fieberndes Kleinkind macht ihnen einen Strich durch die Rechnung. Übrig bleiben der Vater und die Tochter, die sich verloren am Busbahnhof gegenüberstehen. Da gehen zwei auf Reisen, die zusammen in demselben Haus älter geworden sind, aber nie viel miteinander zu tun hatten. Jene Familienmitglieder, die für beide über all die Jahre das Familienleben ausgemacht hatten, fehlen: Der Bruder und die Mutter. Und so amüsiert sich der Vater auf eine Art, die der Tochter an ihm völlig fremd ist, während sie selbst versucht, sich auf ihr neues Hobby zu konzentrieren, die Fotografie. Zuständig für Momentaufnahmen, für Bruchstücke eben.
Aoyamas Geschichten erzählen aber auch von Distanzen, die manchmal eben nicht nur zwischen Fremden existieren, sondern manchmal in überraschendem Umfang auch zwischen Familienmitgliedern oder Partnern. Wie zum Beispiel in Farinas Zimmer, das Momentaufnahmen vor einer Hochzeit einfängt. Dem Bräutigam kommen ständig Szenen mit der Verflossenen in den Kopf, je näher der Termin mit der aktuellen Lebensgefährtin rückt. Aber warum? So recht kann er es sich nicht erklären. Vielleicht, weil sie noch immer in demselben Haus zu wohnen scheint, er aber keine Ahnung hat, wie es ihr geht oder was sie tut. Am Ende hatte ich gar den Eindruck, er hätte vermutlich nicht einmal mitbekommen, wenn sie schon längst ausgezogen wäre.
Auch im letzten Teil Wildkatzen begleitet der Leser seine Protagonisten nur kurz. Er lernt eine junge Frau aus der Präfektur Okinawa durch die Augen ihrer Verwandtschaft kennen. Die Inselgruppen von Okinawa liegen 500 Kilometer und mehr von der Südspitze Kyushus entfernt. Das „Landei“ Shiori, zuhause auf der kleinen Insel Iriomote, will Tokyo sehen, die Universitäten begutachten und sich dort für ein Studium bewerben. Auf den Geschmack gekommen ist sie vermutlich, als sie zur Hochzeit ihrer Cousine Kyoko in Tokyo zu Gast war.
Das jung verheiratete Ehepaar Kogure nimmt Shiori auf Bitten von Tante Matsueda für ein paar Tage auf, wird aus dem jungen Mädchen aber nicht recht schlau. Erzählt Kyoko allerdings von ihrer Cousine, haben alle Gesprächspartner denselben Gedanken: Wildkatzen! Auf Iriomote gibt es tatsächlich eine Katzenart (unter Artenschutz), die nur dort vorkommt.
Aoyamas Geschichten finde ich auf Anhieb nicht sehr eingängig. Das liegt zum Einen an der Symbolik, die ich wahrscheinlich nicht vollends entdeckt habe. Die Kamera in der ersten Geschichte gehört da noch zu den schnellen Erkenntnissen. Über Wildkatzen dachte ich tagelang nach, bis ich „Wildkatzen“ und „Iriomote“ gegoogelt habe und nun vermute, Aoyama auf die Schliche gekommen zu sein. Das liegt zum Anderen daran, dass alle drei Geschichten für mich (noch?) keinen vollen Erzählbogen haben. Es sind also keine Geschichten, die vollendet beiseitegelegt wurden, sondern welche, die mehrere Tage lang vor sich hin vergoren und zum Teil immer noch bei mir bruchstückweise vor sich hin gären.
Bibliografische Angaben
Verlag: Cass Verlag
ISBN: 978-3-944751-17-7
Originaltitel: Kakera / かけら
Erstveröffentlichung: 2009
Deutsche Erstveröffentlichung: 2018
Übersetzung: Katja Busson, Frieder Lommatzsch
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