Es läuft etwas merkwürdig im Leben von Gilbert Silvester. Und auch Gilbert Silvester selbst ist etwas merkwürdig. Er träumt, seine Frau betrüge ihn. Das reicht bereits aus, um ihr theatralisch eine Szene zu machen, seine Sachen zu packen und sein Heil in der Flucht zu suchen. Gilbert nimmt den nächstbesten Flug und der führt ihn nach Japan. Das passt dem manirierten Kaffeeliebhaber allerdings gar nicht. Spätestens hier (sofern man es in der Anfangssequenz noch nicht gemerkt hat) begegnet man der Witzfigur Gilbert:
Er aber, Gilbert Silvester, sah sich von seiner eigenen Frau dazu gedrängt, in ein ausgesprochenes Teeland zu reisen. … um so peinigender für ihn, um so sadistischer von Mathilda, ihm dergleichen zuzumuten, aber er ließ sich nun nicht mehr abhalten, er reiste hin, aus reiner Unabhängigkeit, aus Trotz.
Angekommen in Tokyo besorgt er sich einen Reiseführer und ein paar japanische Literaturklassiker, darunter ein Werk des Dichters Matsuo Bashō, das dessen Reise in den Norden Japans beschreibt. Gilbert lässt sich ziellos durch Tokyo treiben und trifft auf einem Bahnsteig einen jungen Mann, der sich wegen seiner Prüfungsangst umbringen will. Gilbert spricht ihn an und sorgt für den Studenten. Er bringt ihn in seinem Hotezimmer unter und wird mit ihm auf Reisen gehen. Während Yosa Tamagotchi dem Rat eines einschlägigen Handbuchs für Selbstmörder folgen will, schlägt Gilbert die historischen Reiseziele von Bashō vor.
Auf der Suche nach wertigen Reisezielen
Obgleich die Reisenden so unterschiedlich sind, überschneiden sich ihre Interessen. Beide suchen einen perfekten Ort für ihre jeweils persönliche „Selbstfindung“. Der Student und der Privatdozent bilden eine kuriose Schicksalsgemeinschaft, die sich gegenseitig zu beraten versucht, dabei aber nicht nur an sprachlichen Hindernissen scheitert. Die sind letztlich aber eine treffende Parabel dafür, dass sich Yosa und Gilbert die ganze Reise über kaum annähern werden.
Zunächst suchen die Zwei Yosas Wunschplätze auf. Gilbert lässt sich nämlich darauf ein, dem Studenten einen „besseren“ Platz zu suchen als einen schnöden Bahnsteig im trubeligen Tokyo. Doch passend erscheint ihm nichts von dem, was im sorgsam studierten Handbuch steht. Gilbert lässt keine Gelegenheit aus, den Japaner wortreich über die Missgriffe im Handbuch zu belehren. Zu laut, zu stinkend, zu profan, zu würdelos, zu grelles Licht, „dieser Ort komme definitiv nicht infrage.“ Geradzu absurd wird der Ausflug nach Aoigahara, einem dichten Urwald nahe Tokyo, der traurige Berühmtheit erlangt hat. So mystisch und magisch der Wald tatsächlich ist, so sehr finden sich hier zahllose Artefakte, denn bei der jährlichen Räumung im Wald spielen Plastikbänder, Bentoboxen, Schuhe, Autos, Taschen und andere Hinterlassenschaften keine Rolle.
Vom Umgang mit Traditionen
Im Gegenzug zerlegt Yosa die Reiseziele Bashōs, denen Gilbert eine hohe Bedeutung zumisst. Wo Bashō einst in Tokyo an Land ging, erinnert nur ein Gemälde an den historischen Ort, unsäglich bedrängt von einer Straßenbrücke, die über schwarzes Wasser führt. Der „Stein im Meer“ entpuppt sich als kleiner Felsen inmitten eines eingegitterten Teichs, umgeben von Straßen und Wohnhäusern. Ein Blick auf Tripadvisor zu jenem berühmten Oki no Ishi hätte die allerhöchstens befriedigende Wirkung enttarnen können, die heute kaum einen Japaner mehr begeistert.
In einer Hinsicht aber lassen sich die Reisegefährten nicht beirren. Inspiriert vom großen Vorbild notieren sie eigene Haiku. Es ist die einzige Gemeinsamkeit, die sie während ihrer Reise finden. Die Ideen sprudeln im Zweifelsfall auch dann, wenn ein Kleinlaster um sie herum manövriert.
Auf dem höchsten Berg,
wo die Gräber beginnen,
stehen zwei Kiefern.
Die Verwandlung
Sprachlich ist das Buch etwas Besonderes: Poschmann findet sehr poetische Formen, Gilberts merkwürdige Reise zu verpacken. Der Mann wirkt geradezu harmlos in seinem Bemühen, einen eigenen Stil zu finden und gleichzeitig Yosa, aus seiner Position des Älteren, Lebenserfahrenen und Studierten heraus, eine Lösung aufzuzeigen. Dabei ist er selber auf der Suche.
Im Lauf der Reise nimmt Gilbert wieder Kontakt zu seiner Mathilda auf; er beginnt, ihr Briefe zu schreiben. Ob sie jemals abgeschickt werden, verrät das Buch nicht, aber eine gewisse Annäherung findet statt. Man achte einmal auf die Herbstfärbung der Laubbäume, die üppig Platz findet.
Apropos Natur: Es ist eine Stärke von Poschmann, diese zu beschreiben. Wortreich und kreativ nimmt sie den Leser mit in die Wälder, lässt Gilbert über die Krümmungen der Kiefern sinnieren, über Farben und Wolkenformationen. Es gibt unzählige Textpassagen, die ich mehrfach durchgelesen habe. Einfach, weil ich in die Sprache ähnlich eintauchen konnte wie Gilbert in seine Kiefernbetrachtung.
Auf den skurrilen Humor und die doppelbödige Konstruktion stieß ich allerdings erst gegen Ende. Kurz vor Schluss rückten viele kleine Elemente an ihren Platz im Gesamtbild und ich schließe die Kieferninseln nicht nur mit Begeisterung ab. Auch mit ein bisschen Fernweh nach Kieferninseln und Salzpflaume.
Im Stadtviertel Fukagawa von Tokyo gibt es verschiedene Orte, die mit dem Dichter Bashō in Verbindung gebracht werden. Der Dichter wohnte und arbeitete nach 1680 hier. Eine literarische Runde beschreibt der Artikel Finding Bashō in Tokyo: 5 places in Fukagawa.
Bibliografische Angaben
Verlag: Suhrkamp
ISBN: 978-3-518-42760-6
Erstveröffentlichung: 2017
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2 Kommentare
Ein interessanter Blog ist das hier, Bettina!
Hält einen gut von der Arbeit ab. Ergänzend zu diesem Buch von Marion Poschmann, und passend in die Corona-Zeit, empfehle ich das Buch von Issa, einem der Großen des Haiku: „Die letzten Tage meines Vaters“. Habe ich hier mal vorgestellt:
https://www.reklamekasper.de/buchbesprechung/den-pestgott-wegschwemmen-mit-issa/
Herzliche Grüße aus Tübingen
Norbert Kraas
Lieber Norbert,
herzlichen Dank für deinen Link. Issa passt als einer der anderen großen Haiku-Dichter sicher gut her.
Weiterhin viel Spaß dabei, wenn du dich von der Arbeit abhalten lässt 😉
Beste Grüße
Bettina