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Clarissa Goenawan – Rainbirds

Clarissa Goenawan – Rainbirds

Die Nachricht vom Tod seiner Schwester kommt für Ren Ishido ebenso überraschend wie erschreckend. Keiko war vor Jahren in das Städtchen Akakawa am Westrand der Präfektur Tokyo gezogen und arbeitete als Lehrerin an einer Paukschule. Keiko, die große Schwester, hatte Ren versorgt und gekocht, während die Eltern sich in ständigen Streits kaum um die Kinder kümmern mochten. Nach Keikos Umzug hielten die beiden wöchentlichen Telefonkontakt. Und doch irritiert die Nachricht sehr, denn Keiko wurde nachts auf dem Nachhauseweg erstochen. Das ist eine Nachricht, die weder zu Keiko noch zu Akakawa zu passen scheint.

Ren reist nach Akakawa, um nicht nur seine Schwester zu beerdigen, sondern auch, um ihrem Leben nachzuspüren. Wie konnte es zu dieser unerklärlichen Tat kommen?

Die fremde Schwester

Eigentlich liebte Ren seine Schwester sehr. In einem Haushalt, von zwei sich entfremdenden Eltern geprägt, war Keiko die Bezugsperson schlechthin. Keiko war es, die eines Tages vom Fertigessen aus dem Konbini genug hatte und anfing, selbst zu kochen. Keiko war es, die gute Ratschläge erteilte und eben nicht nur große Schwester war, sondern auch die Mutter ersetzte.

Als Ren nach Akakawa reist, erscheint ihm seine Schwester allerdings immer fremder. Was er von ihr wusste, deckte offenbar nur einen kleinen Teil ihrer Persönlichkeit ab. Eigentlich, so muss er feststellen, verbarg sie schon immer einen großen Teil ihrer Interessen und Wünsche vor ihm. Was auch immer sie in den wöchentlichen Telefonaten miteinander teilten, hatte wenig mit Keiko zu tun, sondern viel mehr mit dem Bild, das Ren von ihr hatte oder haben sollte.

Nachspüren, wenn es zu spät ist

Ren spürt, dass ausgerechnet der ihm wichtigste Mensch zu Lebzeiten ganz schön entglitten war. Da er mit seinem Studium gerade fertig ist, bleibt er kurzerhand in der Stadt und übernimmt, was die Schwester zuvor getan hatte: Er wird Lehrer an der Paukschule, zieht in das alte Zimmer im Haus eines Politikers, wo er im Gegenzug der kranken Ehefrau täglich vorlesen muss. Alles mit der vagen Idee, das könnte ihm Keikos Denken oder Alltag ein wenig näher bringen. Besser spät als gar nicht.

Goenawan zeichnet mit Rens Suche nach dessen Familiengeschichte gleichzeitig die anderer Familien in Akakawa nach. Die des Politikers Katou, die des Schulmädchens Nakajima. Allen ist etwas verloren gegangen. Es ist die Poesie von Rainbirds, diesen Menschen zumindest in Teilen etwas zurück zu geben. Ich glaube, es ist schon eine Überlegung wert, sich selbst mal zu fragen, wieviel „Ren“ und „Keiko“ in manch unseren Beziehungen steckt, die uns doch so wichtig erscheinen. Der Roman hat in einigen Passagen etwas geradezu Philosophisches.

Eine Murakami-Komposition?

So manches an diesem Roman ist versponnen. Mitunter so sehr, dass sich Florian Valerius an Haruki Murakami erinnert fühlt. Ren hat zum Beispiel viele Träume, in denen ein Mädchen mit Zöpfen auftaucht und Kontakt zu ihm sucht. Er sieht und hört seine Schwester. Irgendwie scheint auch die Ziellosigkeit eine Rolle zu spielen, mit der Ren sich treiben lässt. Einfach mal hier Keikos alten Job annehmen, dort das möblierte Zimmer übernehmen, in Tokyo die Freundin ohne jegliche Nachricht zurücklassen, ein wenig Detektiv spielen und schauen, ob man nicht doch den Täter findet. Mit der Schülerin Nakajima essen gehen und Diebstähle verhindern, obwohl ihm die Vernunft klar sagt, dass er seine Grenzen massiv überschreitet. Und am Ende fügt sich alles magisch wieder zusammen.

Vor allem dieses Ende, als sich alles butterzart fügt und Goenawan auch eine positive Zukunft für Ren und seine Freundin anklingen lässt (obwohl er sie wochenlang nicht kontaktiert hatte), da war’s mir des Netten zu viel. Trotzdem muss ich sagen, dass ich den Roman insgesamt genossen habe. Clarissa Goenawan fängt in Rainbirds die Stimmung der jungen Generation und des Lebens abseits der großen Metropole gekonnt ein und genau das mochte ich wiederum. Dieses Japan mit der korrekten Fassade nach außen, mit dem Paukschulen für die Karriere und dem Rennen um Studienplätze, mit der gewissen Ratlosigkeit, weil wandelbare Berufskarrieren nach wie vor eher selten geführt werden und die Langfristigkeit von Entscheidungen furchteinflößend erscheint.

Ren lernt am Ende etwas über Rainbirds und scheint sich mit so vielem zu versöhnen. Wer weiß, wozu es für ihn gut ist und und wie könnte ich das Ren nicht gönnen?

„Denk daran, Ren“, sagte sie. „Traurigkeit allein kann niemandem schaden. Es ist das, was du tust, wenn du traurig bist, das dir schadet, und ebenso den Leuten um dich herum.“

Clarissa Goenawan - Rainbirds / Rezension & Buchvorstellung

Bibliografische Angaben

Verlag: Thiele Verlag
ISBN: 978-3-85179-423-6
Originaltitel: Rainbirds
Erstveröffentlichung: 2018
Deutsche Erstveröffentlichung: 2019
Übersetzung: Sabine Lohmann

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