Matthias Reich – Was Sie dachten niemals über Japan wissen zu wollen

von Bettina Schnerr
4 Minuten Lesezeit
Header: Matthias Reich - Niemals Japan

Von außen betrachtet ist der Blick auf ein fremdes Land ja sehr oft angestrichen mit einem Firnis aus hübschen Klischees, gespickt mit einigen Vorurteilen, aber auch Träumen und einer ganzen Menge Hochglanzbildern. Im Fall von Japan gehört die unglaubliche Disziplin in Warteschlangen dazu, eine legendäre Arbeitseinstellung mit wenig Ferien oder die faszinierende Technologie mit Robotern im Hotel und minutiös getakteten, sauberen Zügen aller Art. Das Essen ist fabelhaft und obendrein begeistert eine großartige Natur, vor allem, sobald man die Ausläufer der Metropolregion hinter sich gelassen hat.

Vieles davon stimmt tatsächlich. Die Züge halten sogar auf den Zentimeter genau immer an derselben Stelle. Braucht man irgendwas Kreatives oder Lustiges, findet sich immer was im Tokyu Hands (heute nur noch „Hands“). Essen gehen kann man in jeder Preisklasse und die Perfektion der Plastikgerichte vor der Eingangstür ist atemberaubend (die Hersteller lassen sich ihr Können freilich auch gut bezahlen). Als ein Bekannter einmal Kaffeekapseln brauchte, bestellte er sie online und ließ sie vom Lieferdienst zum Termin seiner Wahl bringen – der war Sonntag um 20 Uhr.

Es gibt nicht nur „Familiensilber“

Wie überall muss man quasi den Teppich lupfen um zu sehen, was alles drunter gekehrt wurde. Oder die Schublade rausziehen und schauen, was hinten alles vergessen wurde. Genau das tut Matthias Reich. Reich lebt seit vielen Jahren mit seiner Familie in Kawasaki, führt eine japanische IT-Firma und spricht fließend Japanisch. Beste Voraussetzungen also, um in Zeitungen, bei Recherchen und Gesprächen all das mitzubekommen, was einem Touristen oder Kurzzeit-Expat verborgen bleibt.

Seine Erfahrungen fasst er in 55 kurzen Kapiteln zusammen, die sich über alle denkbaren Alltäglichkeiten erstrecken. Allen voran die Sprachen. Schon die eigene kann mittlerweile eine Herausforderung sein. Japaner lernen in der Schule etwa 2100 Pflichtzeichen, die Jōyō-Kanji. Da die Zeichen außerhalb der Schule kaum noch mit der Hand geschrieben werden, sondern mit dem Computer, gehen manchmal einige davon im Aktivgebrauch verloren. Es kann durchaus sein, dass jemand bei Zeichen, die nicht mehr jeden Tag benötigt werden, das selber schreiben verlernt. Oder es werden aus den automatisch erstellten Vorschlägen im Computer falsche Zeichen bestätigt.

Das Leid mit der englischen Sprache

Beim Stichwort Sprache geht es in Japan regelmäßig auch um das Englisch-Niveau – oder eben das nicht vorhandene. Gemessen an der Zahl der Menschen, die Englisch entweder in der Schule oder in teils sehr teuren Extrakursen lernen, kann nur ein kleiner Teil wirklich Englisch sprechen (Youtube ist voll von Videos dazu). Reich verrät, warum das so ist. Eine Rolle spielt die Unterrichtsgestaltung, die vom Bildungsministerium ausgeht (das sich beim Fach Geschichte auch nicht mit Ruhm bekleckert, wie er in einem Kapitel zeigt). Eine andere spielen die Prüfungen, in denen es schlicht keinen praktischen Teil gibt.

Mit Büchern darüber, wie man die Tests überlisten kann, ließen sich ganze Bibliotheken füllen, und die Bücher haben – wenn sie in Japan verlegt wurden – eines gemeinsam: Man findet kaum Englisch in ihnen.

Überhaupt, so Reich, seien Schulen kein Ort, wo man etwas fürs Leben lerne. Die Bildungsstruktur funktioniert sehr prüfungsorientiert und selbst der spätere Beruf hat meist wenig mit dem Studium zu tun hat. Die Ausbildung übernimmt die jeweilige Firma entsprechend ihren Anforderungen. Oft ist es üblich, den Posten im Lauf der Zeit zu rotieren. Der Vorteil ist, dass man die Firma irgendwann sehr gut kennt, der Nachteil aber, dass man im ärgsten Fall keinen Posten so richtig beherrscht.

Hightech ja, nur nicht zu viel

„Japan ist die Heimat von Ineffizienz und Pfusch“ überschreibt Reich eines seiner Kapitel und als Untertitel könnte man es auch bei einigen anderen einsetzen. Obgleich japanische Autos eine ausgezeichnete Pannenstatistik haben und der Shinkansen ein zuverlässiges und sicheres Zugsystem ist, kann Japan in anderen Bereichen gleichzeitig Jahrzehnte zurückliegen. Erst 2022 machte eine Gemeinde einen mehrere Tausend Yen teuren Überweisungsfehler und so kam heraus, dass sie nach wie vor Floppy Disks für ihre Geschäfte einsetzen.

Internetbanking beschreibt Reich als tendenziell nutzlos, weil die Angebote zum Beispiel auf alte Browser abgestimmt sind und kein Update erhalten. Viele Unterlagen werden mit Excel erarbeitet – ich selbst kenne nur eine einzige attraktive Anwendung für dieses Programm 😉 —und Reichs IT-Firma bekommt gelegentlich umfangreiche Files, in die Bilder, Beschreibungen oder Layouts eingearbeitet sind. Mit der Bitte, erste Entwürfe der neuen Website doch bitte zurückzufaxen.

Da verwundert es nicht zu lesen, dass Japans Einwohnerstatistik möglicherweise nicht mehr viel mit den Einwohnern zu tun hat. Wenn Beamte den ältesten Bewohnern der Stadt gratulieren wollten, erfahren sie nicht selten, dass die Jubilare längst verstorben sind.

Und trotzdem: Japan ist eines der sichersten Länder und Reich würde definitiv kein anderes Risikogebiet der Welt gegen Japan eintauschen wollen. In anderen Ländern, so Reich, würden dieselben Naturkatastrophen weitaus mehr Schaden anrichten als auf dieser Insel.

Niemals Japan? 55 gute Gründe dafür!

Freilich gibt es auch immer gute Gründe, doch nach Japan zu reisen. Wie könnte es anders sein: Es sind 55 Stück. Darunter die öffentlichen Stadtbahnen, mit dem man „für einen Appel und ein Ei“ von A nach B kommt, oder die bento-Kultur oder weil man in den Badezimmern ohne Rücksicht auf Tapeten, Decken oder Fußböden plantschen kann.

Im Buch stecken insgesamt viele Details, die man so nicht vermutet hätte oder deren Ausmaß von außen kaum zu erkennen ist (die ganze Liste als Leseprobe beim Verlag). Dass der Verlag den Titel so setzt, dass „Niemals Japan“ als erstes ins Auge fällt, zeigt gleichzeitig, mit wie viel Augenzwinkern Autor und Verlag an die „Niemals“-Serie herangehen. Denn natürlich könnte es bei über 200 Ländern dieser Welt auch über 200 dieser Bücher geben (Finnland, Kanada, Kroatien oder USA sind beispielsweise längst abgedeckt).

Pointiert, kurzweilig und direkt – so funktioniert der Ausflug in die Landeskunde mit diesem Buch. Jedes Land ist eben eine Mischung aus den Hochglanzbildern und einem oft unbekannten Leben abseits der Prachtstraßen und touristischen Highlights. Und es ist nicht nur interessant, sondern auch wichtig, ein Gespür für große und kleine Schwierigkeiten zu entwickeln, wenn man über ein anderes Land sinniert.

5 Buchtipps zu ausgewählten Schlagwörtern

Gleichbereichtigung Emi Yagi – Frau Shibatas geniale Idee

Arbeitsweise Amélie Nothomb – Mit Staunen und Zittern

Diskriminierung Keiichiro Hirano – Das Leben eines anderen

Essen Masayuki Kusumi, Jiro Taniguchi – Der Gourmet

Todesstrafe Kazuaki Takano – 13 Stufen

Bibliografische Angaben

Verlag: Conbook
ISBN: 978-3-95889-314-6
Erstveröffentlichung: 2016, überarbeitete Auflage 2022

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