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Amélie Nothomb erinnert sich an Japan

Amélie Nothomb erinnert sich an Japan

Mit wenigen ausländischen Autoren verbindet sich Japan für mich so intensiv wie mit Amélie Nothomb. Natürlich wäre jeder japanische Autor selbstredend näher am Land und Leuten. Doch die Art und Weise, wie Nothomb in dieses Land und diese Kultur eintaucht, ist etwas Besonderes. Das speist sich nicht nur aus ihrem Lebenslauf, sondern auch daraus, wie ihre Erfahrungen einige ihrer Bücher prägen.

Nothomb wurde als Tochter eines belgischen Diplomaten geboren und wuchs fünf Jahre lang im japanischen Kobe auf. Begleitet von einem japanischen Kindermädchen und Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahren auch eingebettet in eine Kultur und eine Stadt, in der es nur wenig Ausländer gab und es schon gar nicht so international zuging wie in der Mitte Tokyos.

Das sind prägende Kinderjahre und die enge Verbundenheit der kleinen Amélie an ihr Zuhause muss einer schweren Zerreißprobe ausgesetzt gewesen sein, als die Eltern wegen des Vaters umziehen mussten. Es heißt, man habe Amélie aus den Armen ihrer „zweiten Mutter“ reißen müssen, eben jenes Kindermädchens Nishio-san, um abreisen zu können.

Die Erfindung der Biografie

Die frühen Erinnerungen ließen Nothomb nie los, sie, die sich damals ganz selbstverständlich für eine Japanerin hielt. Für junge Kinder, die im Ausland aufwachsen, ist dieses Andocken an das Gastland oft eine typische Empfindung. Die Identifikation mit Japan geht bei Nothomb allerdings weiter. So weit, dass sich Nothomb für ihr Schriftsteller-Ich eine variierte Biografie erdachte. Aus der Baronesse Fabienne Claire Nothomb, geboren 1966 im belgischen Etterbeek, wird die Schriftstellerin Amélie Nothomb, geboren 1967 in Kobe. So weit, dass sie auch als Studentin noch davon überzeugt war, nicht wirklich Belgierin zu sein.

Il suffirait que j’aille au japon pour que tout soit sauvé. — Es würde genügen, nach Japan zu gehen und alles wird gut.

TV-Dokumentation: Une vie entre deux eaux, 2012

In einem TV-Interview fand ich denn auch eine Anmerkung aus diesem emotionalen Erbe, als sie einmal meinte, sie habe in einer bestimmten Situation „eben wie eine Japanerin reagiert“. Eine von ihr verehrte Interviewpartnerin reagierte am Tag des Interviews desinteressiert und abweisend, doch Nothomb zog das Projekt hartnäckig durch und wunderte sich erst später. Spontan anders zu reagieren, was ihr gar nicht in den Sinn gekommen. Grundsätzlich schätze ich diese Reaktion als professionell ein, Nothomb jedoch verknüpfte ihre Art eher mit einem Land als mit eigener Souveränität.

Ein Paradies auf dem Prüfstand

Im Alter von 21 ging Amélie Nothomb erstmals zurück in das Land ihrer Kindheit (der Vater war zu der Zeit erneut Diplomat in Japan, dieses Mal in Tokyo). Aus dieser Zeit speisen sich zwei Bücher, Der japanische Verlobte sowie Mit Staunen und Zittern. Es sind zwei so gegensätzliche Pole, die sie in jenen beiden Titeln verpackt. Das eine Buch eine wohlwollende und positive Erfahrung, das zweite eine harte und entbehrungsreiche. Beide Bücher wurden ausgezeichnet: Der ›Prix de Flore‹ 2007 für Der japanische Verlobte, der ›Grand Prix du roman de lʼAcadémie Française‹ 1999 für Mit Staunen und Zittern.

Nothombs Bücher wurden grundsätzlich ganz gerne ins Japanische übersetzt. Doch das Buch über ihre Erfahrungen in der lokalen Arbeitswelt kam in Japan gar nicht gut an. Sie hasse das Land offenbar, wenn sie so etwas schreibe, heißt es etwa. Es bleibt über Jahre hinweg das letzte Buch, das von ihr auf der Insel erscheinen wird. Die Japaner nehmen ihr die schriftstellerische Auseinandersetzung mit den Arbeitsbedingungen für Frauen und Ausländer äußerst krumm.

Dem japanischem Verleger wird bei einem Essen mit ihr und anderen Frauen aus dem Literaturgeschäft später einmal entgegegeworfen, Amélie Nothomb habe mit ihrer Beschreibung gar „untertrieben“. Er solle einsehen, dass sie schlicht die Realität geschildert habe. Erneut ein harter Affront, der Verleger wird den Tisch kurzerhand unter einem Vorwand verlassen.

Dabei wartete für Nothomb beim Arbeitgeber Mitsui (der das Vorbild für die fiktive Firma Yumimoto lieferte) vielleicht noch eine ganz andere Auseinandersetzung auf sie als nur der krude Umgang der japanischen Arbeitswelt mit Frauen. Der Klappentext bringt heute auf den Punkt, was Amélie hart erfahren musste: „Eines ist von Anfang an klar: Eine Frau, zumal eine aus Europa, kann nur ganz unten einsteigen. Und noch tiefer fallen.“

Als 2010 die Verfilmung von Mit Staunen und Zittern herauskam, analysierte L’Express bereits, dass die größere Desillusionierung wohl darauf beruhe, dass sich Nothomb für eine Japanerin gehalten habe. Nothomb bewahrte die Nerven und ließ sich über Monate nicht unterkriegen. „Je me conduirais comme une nippone l’eût fait“ — Ich habe mich so verhalten, wie es eine Japanerin getan hätte. Doch als Europäerin, die sie ist, kann sie das Niveau einer Japanerin im Land der Japaner nie erreichen. So tickt das Land. Ziemlich Knall auf Fall verließ Nothomb Tokyo wieder, ließ zugleich ihren japanischen Verlobten zurück und ging wieder nach Brüssel.

Mit der Schauspielerin Sylvie Testud traf Nothomb sich übrigens zum Gespräch und es ist interessant zu lesen, wie sehr Nothomb sich in der Darstellung erkennt, die Testud gibt (und die ziemlich gut verstanden hat, was dieses Arbeitsjahr in Nothomb ausgelöst hat).

Konfrontation mit dem Mythos

Im Jahr 2012 entsteht das nächste autobiografische Buch, Eine heitere Wehmut. Nothomb fährt auf Einladung des Fernsehsenders France 5 nach Japan und sucht die Orte ihrer Kindheit wieder auf. Begleitet wird sie dabei die ganze Zeit von einem Kamerateam. Die Dokumentation Une vie entre deux eaux (49 Minuten) wird im Fernsehen ausgestrahlt, während sich Nothomb daheim später an eine literarische Aufarbeitung ihrer Reise macht. Eben daraus gestaltet sie das Buch, in dem sie nicht nur die Reise mit dem Kamerateam schildert. Sie verpackt darin auch viele ihrer Emotionen, die sie sich vor der Kamera gespart hat. Diese Reise wird auch zu einem Wiedersehen mit Rinri, ihrem im Buch verewigten japanischen Verlobten, mit dem sie einen versöhnlichen Abschluss auf japanische Art findet.

Nothomb setzt sich im Buch sehr persönlich mit ihrer japanischen Vergangenheit auseinander, sicher persönlicher als in ihren Romanen, die weitaus stärker mit erzählerischen und dramaturgischen Kniffen durchzogen sind. Nicht umsonst werden diese Texte als Autofiktion eingeordnet, weniger als Autobiografien.

In Eine heitere Wehmut spürt sie nach, wie viel das Japan ihrer Erinnerungen mit dem Japan ihres älteren Ichs zu tun haben. Dabei merkt sie, wie persönlich und individuell ihre Erinnerungen sind. Lisbeth Koutchoumoff erinnert an eine Szene, in der Nothomb die Kanaldeckel wiedererkennt – ein ganz und gar nostalgischer Moment für die Autorin, ein absolut nebensächliches Detail für die TV-Crew. Nothomb schildert in Metaphysik der Röhren einige Szenen mit Kanaldeckeln. Sie sind in ihrer Erinnerung zum Beispiel verbunden mit der Regenzeit, wenn sie alle geöffnet wurden, um den Wassermassen Platz zu schaffen. Überhaupt sind sie mit Wasser, ihrem Lieblingselement, verbunden. Allerdings begreift sie, dass jemand ohne vergleichbare Assoziationen niemals Gefallen an so einem Stück Eisen haben wird.

„Und ich war Japanerin.“

Das Jahr 2012 war noch aus einem anderen Grund ein wichtiges für Amélie Nothomb. In jenem Jahr erschien in Japan endlich wieder einer ihrer Titel, einen, den sie in der TV-Dokumentation als ihren japanischsten Titel beschreibt: Metaphysik der Röhren. Nachdem Japan nach Mit Staunen und Zittern jede weitere Übersetzung des Werks ausgesetzt hatte, verdankt sie den Neustart einem hartnäckigen Fan. Rumiko Yokota (sie wurde zugleich Übersetzerin des Textes) konnte dem Verleger eine neuerliche Veröffentlichung aus den Rippen leiern. Es hat zwischen Zusage und Veröffentlichung zwar Jahre gedauert, aber es klappte.

Das Buch ist die Autobiografie — oder besser gesagt, die Autofiktion? — der ersten drei Lebensjahre, also Nothombs Geschichte über jene Jahre, die ihre Japan-Verehrung begründen. Zwei Jahre gehen zunächst um, ohne dass das Kind sich als irgendetwas anderes denn als Röhre wahrnimmt. Bis sie belgische Schokolade kennen lernt und dem echten Leben gewachsen sein will. Das Kind hält sich selbst für „Gott“, den Nabel der Welt, um den sich alles zu drehen hat. Die einzige Person, die dem Kind Amélie gemäß deren Selbseinschätzung ausreichend huldigt, ist Nishio-san, das Kindermädchen.

Sehr schnell wusste ich, mit wem ich es halten wollte: zwischen Eltern, die mich behandelten wie alle anderen, und einem Kindermädchen, das mich vergötterte, fiel mir die Entscheidung nicht schwer.
Ich wollte Japanerin sein.

Sie sei „von Schönheit und Verehrung“ umgeben, schreibt Amélie Nothomb. Ihr Maß aller Dinge ist das, was sie tut. Da sie all das mit Nishio-san erledigt, ist die Schlussfolgerung klar: Sie muss Japanerin sein.

Das Buch ist mit einer bravurösen Fabulierlust geschrieben. Das sich selbst so schrecklich wichtig nehmende Kind lässt den Vater in einen Gullideckel plumpsen, vergisst aber in seinem Spieltrieb, Hilfe zu holen. Es liebt jene Geschichten, die von „zerstückelten Körpern“ handeln und davon hat Nishio-san einige auf Lager. Das Kind Amélie lernt schwimmen im Teich, ganz gleich, ob der Normalstand hat oder geflutet ist. Die kleine Amélie wähnt sich im Paradies, weil sie tun und lassen kann, was sie will.

Es ist eigentlich kein Wunder, dass sie den Abschied aus Japan über Jahre hinweg nicht vollzogen hat. Das folgende Land, in das die Familie Nothomb zog, war das China der 1970er Jahre, wo die Diplomaten in Ghettos zusammenlebten. Die kleine Amélie dürfte da tatsächlich nichts von jener Umgebung wiedergefunden haben, die sie in Japan so geschätzt hatte.

Die Aussöhnung

J’ai longtemps cru que j’étais nippone. J’ai fini par comprendre qu’est-ce qui m’avait fondé, n’était pas le Japon, mais le manque du Japon. — Für lange Zeit dachte ich, ich sei eine Japanerin. Letztlich verstand ich aber, dass mich nicht Japan zu dem gemacht hat, was ich bin, sondern das Fehlen Japans.

So viele Jahre nach dem Verlassen Kobes in die Stadt zurückzukehren, hat für Nothomb etwas Surreales. Ganz im Gegensatz zum anschließenden Besuch in Toyko. Die eine Stadt prägte die frühen Kinderjahre, die andere einen jungen Menschen mit ganz anderem Erinnerungsvermögen.

Besonders in Kobe steckt etwas, was so mancher bei der Rückkehr an einen früheren, geliebten Ort verspürt. Durch die lange Zeit dazwischen fühlt sich der Ort unendlich fern an. Nothomb freut sich über die Fotos aus dem Kindergarten also nicht nur, weil sie ihr die kleine Amélie zeigen. Vielmehr bestätigen ihr die Bilder, dass ihr Dasein in Kobe echt war. Das Covermotiv von Metaphysik der Röhren übrigens ist auch Nothomb selber, in der Uniform des Kindergartens.

Was Amélie Nothomb beschreibt, nenne ich den Nothomb-Effekt. Den glaube ich nämlich auch zu kennen. Vielleicht mag ich deshalb Nothomb so sehr. Nicht nur wegen ihrer üppigen Autofiktion, ihres unbezähmbaren Stils. Sondern weil ich diesen Nothomb-Effekt verspüre und wiederzuerkennen glaube.

Erinnerungen sind natürlich Dinge, die uns prägen. Sie verändern sich allerdings. Und das nicht nur, je länger sie her sind. Kindheitserinnerungen sind da wahrscheinlich besonders anfällig. Erinnerungen verändern sich auch, wenn die zugehörigen Erfahrungen intensiv mit dem kontrastieren, was sonst um uns herum passiert. Das Leben in Japan gehört für uns Europäer definitiv dazu. Meine eigene Zeit in Japan erlebt deshalb auch schon ihre Nothomb-Effekte: War ich wirklich da? Die zahllosen Fotos beweisen es glücklicherweise. Was wird mit dem Abgleich zwischen dem Mythos, der in den Erinnerungen bereits zu leben beginnt und der Realität? Mein Moment der heiteren Wehmut steht noch aus.

Bibliografische Angaben

Verlag: Diogenes

Metaphysik der Röhren
ISBN: 978-3-257-23399-5
Erstveröffentlichung: 2000
Deutsche Erstveröffentlichung: 2002
Originaltitel: Métaphysique des tubes
Übersetzung: Wolfgang Krege

Der japanische Verlobte
ISBN: 978-3-257-24151-8
Erstveröffentlichung: 2007
Deutsche Erstveröffentlichung: 2010
Originaltitel: Ni d’Ève, ni d’Adam
Übersetzung: Brigitte Große

Mit Staunen und Zittern
ISBN: 978-3-257-23325-4
Erstveröffentlichung: 1999
Deutsche Erstveröffentlichung: 2000
Originaltitel: Stupeur et Tremblements
Übersetzung: Wolfgang Krege

Eine heitere Wehmut
ISBN: 978-3-257-24151-8
Erstveröffentlichung: 2013
Deutsche Erstveröffentlichung: 2015
Originaltitel: La Nostalgie heureuse
Übersetzung: Brigitte Große


Autorenfoto: Catherine Cabrol

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