Würdet ihr ein Resturant finden, das auf ein Schild an der Hauswand verzichtet, keinen der charakteristischen Stoffvorhänge vor der Eingangstür hat und lediglich eine Anzeige mit diesem Wortlaut schaltet:
Kamogawa Shokudo, Restaurant und Detektei. Suchen verlorene Geschmäcke für Sie.
Nagare Kamogawa ist davon überzeugt, dass jene Leute, die wirklich Hilfe suchen, ihren Weg ins kleine Restaurant „Kamogawa Shokudo“ in Kyoto finden. Die Spezialität von ihm und seiner Tochter Koishi? Sie kochen Gerichte genau so nach, wie Menschen sie in Erinnerung haben und nochmals essen möchten.
Dises Restaurant der verlorenen Rezepte verlässt sich nicht auf magischen Realismus, wie es Banana Yoshimoto bei „Kitchen“ tut. Was Nagare recherchiert, hat Hand und Fuß und die Erläuterungen, die er zu den Gerichten liefert, geben einen tiefen Einblick in die japanische Kochkultur. Je nachdem, wo man lebt, gibt es unterschiedliche Reissorten. Der Tofu-Lieferant kann beim Geschmack ebenso eine Rolle spielen, wie die Fleischerei oder der Gewürzladen. Obendrein wechseln Hausfrauen wie Köche ihre Zutaten je nach Jahreszeit aus.
Essen ist Erinnerung
Die Fragen stellt Koishi, die Recherche übernimmt ihr Vater. Ausreichend Informationen bekommen sie selten, scheint es. Manche, die hier durch die Tür kommen, suchen eine Kindheitserinnerung und haben nicht viel mehr als die Eindrücke des fünfjährigen Kindes, das sie damals waren. Und doch gelingt es Nagare nach einer Reise an den früheren Aufenthaltsort seiner Klientinnen und Klienten, die Komposition der Gerichte auszutüfteln. Nicht zuletzt klappt das, weil ihm gelegentlich die Zutat „Erinnerung“ in die Hände spielt.
Das kann das Nabeyaki Udon der verstorbenen Frau sein, das bei der neuen Lebensgefährtin merkwürdigerweise anders schmeckt. Andere suchen Makrelensushi, das sie regelmäßig bei der Nachbarin bekamen, oder Spaghetti, die sie ein einziges Mal mit dem Großvater genießen durften.
Lesen macht hungrig
Nagare lässt bei seinen Nachforschungen viel Menschenkenntnis aufblitzen. So viel, dass er auch das Bild einer Schwiegermutter geraderücken kann, das sich ein Sohn nach dem frühen Tod der Mutter nicht allzu vorteilhaft zusammengeschustert hat. Er hilft mit Trost in der Trauer und macht das verlorene Rezept aus der Vergangenheit zu einem Denkanstoß für eine zufriedenere Zukunft.
Doch die gar nicht so heimliche Hauptrolle spielt meiner Meinung nach definitiv das Essen. Jeder Gast erhält beim ersten Besuch ein Gericht nach Wahl des Kochs. Hisashi Kashiwai zelebriert mit Genuss die Kunst der saisonalen und regionalen Küche mit all den hingebungsvollen Details, die die japanische Küche damit verbindet. Das Geschirr wechselt permanent Motive und Formen. Und viele Menus bestehen nicht nur aus zwei oder drei Schälchen, sondern weitaus mehr, dafür kleinen Komponenten.
Eine Hymne auf das frische und selbst gekochte Essen, das fernab vom Fertigessen mit wenig Zutaten eine unglaubliche Vielfalt bietet.
Die Episoden sind in sich abgeschlossen und erinnern an die Restaurant-Serien von Masayuki Kuzumi. Geradezu prädestiniert für eine kleine Fernsehserie, was 2016 vom japanischen TV auch in acht Folgen realisiert wurde. Der Untertitel „Food Detectives von Kyoto 1“ lässt vermuten, dass es nicht bei einem Buch geblieben ist und weitere Übersetzungen folgen sollen.
Bibliografische Angaben
Verlag: List
ISBN: 978-3-471-36062-0
Originaltitel: Kamogawa Shokudo (鴨川食堂)
Erstveröffentlichung: 2013
Deutsche Erstveröffentlichung: 2023
Übersetzung: Ekaterina Mikulich
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Ich bin froh, dass die deutsche Ausgabe ein so herrliches Motiv für das Cover gewählt hat -es erinnert an Donburi oder (was es wahrscheinlich wirklich sein soll) Ramen. Damit verzichtet es auf eine klassische „Japan-Falle“. Wie das sonst hätte aussehen können, zeigt die englische Ausgabe mit Hirune als Hauptmotiv. Eine Katze, die ständig vor der Tür des Kamogawa Shokudo herumstreicht, aber nicht hereindarf. Hirune ist eine kleine nette Nebenrolle. Aber „Das Restaurant der verlorenen Rezepte“ ist ganz sicher kein Katzenroman, der ein solches Motiv verdient hätte.