Kishōtenketsu — das Geheimrezept japanischer Romane

von Bettina Schnerr
7 Minuten Lesezeit
Header: Wie funktioniert die Erzähltechnik Kishotenketsu? Bild: Laurentiu Moriariu, unsplash

Ein junger Mann, der Klaviere stimmt. Eine Frau, die nachts übersetzt. Ein Mann, der nie dazu kommt, seiner Angebeteten die Liebe zu gestehen. Eine Tochter, die mit ihrem Vater eine Busfahrt aufs Land macht. Ein Paar, das nebeneinanderher lebt … Charaktere in der japanischen Literatur machen oft nicht sehr viel. Sie erleben ihren Alltag und das ist auf den ersten Blick scheinbar das einzige, was passiert.

Das Ergebnis: Viele Romane werden als unglaublich ruhig empfunden. Ein lärmiger Showdown ist Fehlanzeige — ganz abgesehen davon, dass es eben zuvor oft schon keine spektakulären Dramen gegeben hat. Dennoch funktionieren die Romane und das Geheimnis dahinter ist ihre spezielle, vierteilige Erzählstruktur namens Kishōtenketsu. Das Muster ist äußerst vielseitig und findet sich in Manga, Filmen, Videospieldesign, Vorträgen, Gedichten oder eben der Literatur.

Wie auch andere kulturelle Einflüsse stammt diese Erzählmethode ursprünglich wahrscheinlich aus China und heißt dort Qicheng Zhuanhe. Über Korea gelangte der Stil nach Japan und von dort aus wurde sie bekannt.

In vier Schritten zur Geschichte: Kishōtenketsu

Der Name setzt sich aus den Zeichen 起承転結 zusammen, die gleichzeitig die Schritte der Struktur erklären.

  • ki / 起: Einleitung
  • shō / 承: Entwicklung
  • ten / 転: Wendung
  • ketsu / 結: Auflösung

Wie lang die Abschnitte werden, entscheiden nicht das Maßband. Viele Erläuterungen beruhen auf einer Einteilung 1/8 – 1/2 – 1/4 – 1/8. Es gibt aber auch Geschichten mit gleichwertigen Abschnitten. Wie Autorinnen und Autoren das Ziel eines jeden Abschnitts erreichen, legt diese flexible Schreibmethode nicht fest.

Die Einleitung ki stellt natürlich die Charaktere vor und liefert die Grundlagen, um den Plot zu verstehen. Mit der folgenden Entwicklung geht viel Freiheit einher. In Romanen stellt shō die Personen, ihre Denken und das Setting besser vor. Wesentliche Änderungen passieren hier nicht. Die kommen erst in ten, einer unerwarteten Wendung, die viele Formen annehmen kann. Sie kann das Geschehene in ein neues Licht rücken, Enthüllungen bieten oder die Figuren herausfordern. ten kann aber auch eine andere Zeitebene in der Erzählung sein. ten muss nicht einmal direkt mit der bisherigen Handlung zu tun haben.

ketsu führt alle Elemente zusammen. Das kann über eine erneute Wendung sein, einen wichtigen Lebensschritt oder ein offenes Ende, weil die Figuren sich mit der neuen Situation arrangieren. Im Prinzip könnte eine Figur auch mehr oder weniger dort weitermachen, wo sie zu Beginn war.

Schreiben ohne Konflikt

Fällt hier etwas auf? Wenn ja, dann das hier: Von einem großen Konflikt, der die Geschichte dominiert, habe ich nirgends geschrieben. Das Besondere an Kishōtenketsu ist, dass jede Geschichte nach diesem Aufbau auch ohne Feindbilder funktioniert, die bekämpft und besiegt werden müssen.

Mit zwei Beispielen aus meinem Lesejahr 2024 zeige ich, wie das Konzept umgesetzt wurde. Das geht nicht ohne Spoiler. Wer die jeweiligen Romane noch lesen möchte, sei bitte vorgewarnt.

Natsu Miyashita - Der Klang der Wälder

Die „langweilige“ Klaviergeschichte

Ich erinnere mich noch recht genau an das ratlose Gefühl, dass „Der Klang der Wälder“ ausgelöst hatte. So recht anfangen konnte ich damit nichts. Hätte ich Kishōtenketsu schon früher gekannt, wäre ich nicht ganz so gelangweilt gewesen – sondern eher fasziniert davon, wie klasse dieser Roman auf die vier Schritte passt und welchem sehr natürlichen Fluss die Handlung folgt.

Alles dreht sich um den jungen Tomura, der Klaviere stimmen will. Er geht in die Lehre und ab da dreht sich alles um shō – was er lernt, bereitet ihn auf die eigentliche Herausforderung vor. Ohne, dass er es merkt, ohne, dass die Herausforderung beim Lesen vorweggenommen wird. Tomura lernt unter anderem die Wirkung von Räumen auf den Klang kennen und den Einfluss unterschiedlicher Charaktere auf das Spiel. Miyashita erläutert parallel viel über die Entwicklung und den Bau der Klaviere selbst, welchen Einfluss zum Beispiel Luftfeuchte oder die Bauelemente auf den Klang haben können. Gleichzeitig lernt man Tomura und seine Kollegen näher kennen, indem sie über ihren Arbeitsstil oder ihre Haltung im Alltag beschrieben werden.

Tomuras ten entwickelt sich aus einer einfachen Bitte: Er soll für eine seiner Kundinnen den Flügel für ein bevorstehendes Konzert stimmen. Der junge Mann fühlt sich verständlicherweise der Aufgabe noch nicht gewachsen. Aber die Entwicklung hat ihm so viele Fähigkeiten an die Hand gegeben, dass er die richtigen Schlüsse für sich ziehen kann – ketsu eben. Und übrigens nein, das Buch endet nicht mit Tomura händchenhaltend mit einer der gleichaltrigen Spielerinnen.

Durian Sukegawa - Die Katzen von Shinjuku

Erinnerung an eine große Liebe

Ein anderes Beispiel ist „Die Katzen von Shinjuku„. Seita Yamazaki, ein junger TV-Texter, bleibt eines Abends in der kleinen Kneipe Karinka hängen. Die streundenen Katzen in der Gegend des Golden Gai geben dort an vielen Abenden Anlass zu einem Katzenlotto, initiiert von Yume-chan, der spröden Köchin und Barkeeperin. Damit ist kin bereits mehr oder weniger fertig.

Sukegawa lässt sich viel Zeit mit shō. Er stellt Yamazakis Arbeit vor und geht auf die ebenso strengen wie chaotischen Arbeitsbedingungen ein. Er erweckt die Stammgäste des Karinka zum Leben. Auch die Katzen erhalten einen gebührenden Platz in der Geschichte. (Warum Katzen in Japan so populär sind, ist aber Stoff für andere Beiträge.) Mit Ausnahme von Yamazakis Leben passiert fast alles andere in den vier Wänden der Kneipe – was später das ten der Story ermöglicht. Auch hier, ohne eine Vorahnung zuzulassen, auf welche Herausforderung genau Yamazaki zulaufen könnte. Sie dürfte mit Yume-chan zu tun haben, soviel Ahnung lässt der Roman zu. Mehr aber auch nicht.

Der Roman überrascht dann in mehrfacher Hinsicht. Yamazakis ten entwickelt sich parallel sowohl beruflich als auch privat. Der Job ist weg. Und Yume-chan ist von einem Tag auf den anderen nicht mehr da. Jene Frau, für die er gerade noch Pläne geschmiedet hat. Der Mann muss sich ganz neu orientieren und gerade bei Yume-chan hat er zunächst nicht einmal eine Ahnung, was eigentlich vorgefallen ist. In Form eines Rückblicks viele Jahre später erklärt Yamazaki im ketsu, wie sich seine Situation in der Zeit nach den Veränderungen entwickelt hat.

Eine Erzählform, die dem Alltag nahe kommt

Beide Romane bauen auf einem typischen ten auf: Weder Tomura noch Yamazaki verfolgen ein Ziel von sich aus. Sie handeln, weil sie auf etwas reagieren müssen. Sie passen sich einer neuen Situation an, und mit den Mitteln, die sie haben, schaffen sie das, was ihnen möglich ist. Mit einer solchen Herangehensweise bewegt sich ein großer Teil der japanischen Literatur erfreulich nahe am Alltag. Tomura hat sich genügend Wissen angeeignet; er ist nur ziemlich unsicher, weil er noch nicht lange im Beruf ist. Yamazaki profitiert von der Anerkennung, die er sich über die Jahre mit guter Arbeit verdienen konnte und sein Netzwerk hilft ihm beruflich weiter.

Beide haben nicht einmal einen konkreten Gegner. Tomura stimmt Klaviere und lernt ganz normale Menschen kennen. Auch Yamazaki wird niemanden bekämpfen, um sein Leben wieder geradezurücken. Klar, sein Chef beim Fernsehen ist ein unangenehmer Wicht. Ihn aufs Kreuz zu legen, würde allerdings nicht helfen.

Wir haben keine Garantie auf ein wohlwollendes Ende oder eine wundersame Rettung. Wir haben nicht einmal eine Garantie, überhaupt ein Ende zu bekommen. Offene Enden -je nach Story- schaffen auch eine akzeptable Realität: So, wie die Figuren eine gewisse Zeit brauchen, sich neu zu orientieren, erlaubt ein offenes Ende das auch mir als Leserin.

Offen sein für eine große Entdeckungsreise

Wenn es also mehr um die eigentliche Reise eines Charakters geht und weniger um eine pfannenfertige Lösung, sind ruhige und offene Enden auch nicht frustrierend. Es gibt stattdessen etwas zum Nachzudenken. Um mit einer Situation fertig zu werden, können die Romane auf eine direkte Konfrontation der Figuren mit anderen verzichten.

Ein Plottwist, in dem Yamazaki seinem Chef eins auswischt, gäbe sicher auch eine coole Story her, aber nötig ist es für eine gute Geschichte nicht. Yamazaki muss vielmehr seine innere Balance wiederfinden, nachdem Yume-chan von der Bildfläche verschwunden ist und er ihr Schicksal begriffen hat. Der Fokus solcher Geschichten liegt stark auf den Charakteren und ihrer persönlichen Entwicklung – da ist die Ruhe inbegriffen.

Kishōtenketsu bedeutet nicht, dass man damit gar keine Heldenreise schreiben könnte (wie wir sie aus Europa und den USA gewohnt sind). Sie ist möglich, aber nur ein Teil aller denkbaren Variationen. In einem Artikel wurde diese Romanform gerade deshalb „Karma-Roman“ genannt: Die Geschichte kommt voran, nicht, weil jemand von sich aus ein Ziel verfolgt, sondern weil Karma einen Anlass liefert und damit erst eine Handlung auslöst. Der Anlass wird zum Antrieb der Geschichte.

Der Clou: Das Ende ist dank der vielen Möglichkeiten selten vorhersehbar. Ehrlich gesagt, bekommen wir so etwas in der Realität ja auch nicht unbedingt zu sehen. Und wenn wir nach greifbaren Motiven suchen und lebensnahen Handlungen, kommen solche Romane dem Alltag tatsächlich am nächsten.

Dem Rhythmus des Lebens folgen

Das passt wiederum in eine Philosophie, der zufolge unser Leben im Einklang mit der Natur steht und eine Art flow erzielt werden soll. Mit einem expliziten Streben nach Besitz, Macht oder Geld passen Konzepte wie Wabisabi, Mottainai oder Shōganai nicht wirklich zusammen – die Schönheit des Unvollkommenen, nichts zu verschwenden und das Loslassen, wenn man etwas nicht ändern kann.

Warum begeistern japanische Romane also so sehr? Mit Sicherheit, weil sie insgesamt anders und vor allem menschlich wirken. Das spürt man beim Lesen, auch ohne die Erzählstruktur zu kennen. Mich persönlich begeistert auch, dass ich sie selten vorhersehen kann. Bei vielen europäischen und US-amerikanischen Romanen ahne ich Teile einer Story voraus. Es gibt nicht nur in Krimis Muster, die mir anzeigen, wer wohl überlebt, wer mit wem am Ende zusammenkommt und wie die Story grob ausgeht. Japanische Romane geben mir davon immer wieder eine attraktive Auszeit.

Ich hoffe, dass ich euch mit diesem Einblick neugierig machen konnte, japanische Literatur für euch zu entdecken oder mit anderen Augen zu sehen. Vielleicht gibt er den Schreibenden unter euch auch Inspiration an die Hand, eigene Geschichten einmal anders zu entwickeln. Lasst es mich gerne wissen.


LINKTIPPS auf YOUTUBE
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Anime’s Storytelling Secret: Kishoutenketsu (v.a. The Promised Neverland)
BUCHTIPP
Laura Imai Messina – Eine Reise in 72 Wörtern (Link folgt am 10. Februar)

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