Weihnachten beschert den Luzernen einen ungewöhnlichen Engel: Am Männliturm findet die Polizei ein kleines schlafendes Mädchen, mit Heiligenscheind, Glitzer und Flügeln dekoriert, gleichzeitig umgeben von verschiedenen Hexenzeichen. Cem Cengiz und seine Kollegin Barbara Amato ahnen, dass die merkwürdige Kulisse nur ein Vorbote für weitaus mehr Übel ist. Jenes findet sich bereits kurz darauf im Zytturm, ebenfalls ein mittelalterlicher Turm der früheren Luzerner Stadtbefestigung. Auch dieses Kind schläft, als Engel dekoriert, aber mit anderen Zeichen umgeben.
Die Sträggele ist wieder da
Cengiz trifft auf den Journalisten Marius van Roijen, der sich ziemlich rasch am Männliturm eingefunden hatte. Mehr als berufliche Neugier soll es nicht gewesen sein, die ihn in der Nacht vor die Tür getrieben hatte. Der gewitzte Mann denkt schnell und erweist sich als guter Helfer. Cengiz mag den Journalisten. Doch er kommt nicht dahinter, ob jener einfach gut arbeitet oder mehr weiß als er sollte.
Die Polizei sucht verzweifelt nach einer Verbindung zwischen schlussendlich drei Fällen, die sich im Lauf weniger Tage ansammeln. Offenbar waren nicht die Kinder Ziel der Aktion, sondern vielmehr die verzweifelten Eltern. Aber da passt nichts, keine gemeinsame Schule, kein gemeinsamer Arbeitsplatz, keine gemeinsamen Routinen.
Alles was bei den Luzernern bleibt, ist die Angst vor der Sträggele. Diese mittelalterliche Sagenfigur soll mit Pferd und Hund unterwegs gewesen sein, um unartige Kinder zu rauben. Nachdem bei einem der Fundorte tatsächlich ein Pferd gesichtet wurde und die Frau, die die Kinder abholte, als rothaarig beschrieben wird, setzt in Luzern eine richtiggehende Hexenjagd ein. Plötzlich mischt ein Pfarrer kräftig mit und rothaarige Frauen werden auf offener Straße angegriffen. Als wäre das nicht genug, fallen die Mütter der beiden ersten „Engelsmädchen“ mit seltsamen Aktionen auf.
„Mobbing, Hexenjagd …“ — „Es kommt auf dasselbe raus, Cem.“
Die Volksseele kocht und will die Hexe brennen sehen, im wahrsten Sinn des Wortes. „Willkommen zurück im dunklen Mittelalter,“ kommentiert von Roijen die wahnwitzige Hysterie der Bevölkerung, gebraut aus den mittelalterlichen Inszenierungen und den drei Entführungen. Die Polizei ist doppelt in der Pflicht, denn nun heißt es nicht nur, einen Fall zu klären, sondern auch die betreffende Frau vor Selbstjustiz der Luzerner zu schützen.
Namensgebend für den (doppeldeutigen) Titel „Luzerner Totentanz“ ist der gleichnamige, barocke Gemäldezyklus. Dieser enstand bis 1637 im Gebälk der Luzerner Spreuerbrücke. Er erinnerte die Bürger daran, dass der Tod allgegenwärtig ist und jeden zu jeder Zeit heimsuchen kann. Nur will die Polizei natürlich nach Kräften verhindern, dass jemand womöglich nachhelfen will.
Mansour lässt ihre Sträggele einen ordentlichen Hexenzauber brauen. Das war mir eine Weile zuviel des Guten, eine verrückte Serientäterin, die nach einem zunächst wirren Muster arbeitet und irgendwann wahrscheinlich einen ersten Toten hinterlässt. Hätte ich bloß den Prolog nicht aus den Augen verloren! Der verrät die Motivation, die der Sträggele und die von Mansour. Im Anschluss an das Buch weist sie explizit auf das Kernthema hin, das den Luzerner Totentanz trägt: Ungerechtigkeit.
Lernen wir aus dem Gestern, ändern wir das Heute
Die Scheiterhaufen gibt es nicht mehr? Vielleicht nicht in dieser Form, aber wir haben „Alternativen“ und „sind heute nicht besser, als wir es früher waren,“ wie Barbara Amato im Buch feststellen wird. Früher brannten vor allem Frauen und Kinder auf dem Scheiterhaufen. Das ließ sich einfach auslösen. Man konnte über lange Zeit so ziemlich jeden loswerden, der zu schön, zu eigensinnig, zu unangepasst, einfach anders war oder schlicht für irgendeine Sache im Weg war.
In Gestalt des Pfarrers Schlumpf tritt auch die Kirche wieder zu einer unheilvollen Rolle an. In einer Leserunde verriet Mansour, dass der Name Schlumpf zu einem alten Henkersgeschlecht in der Schweiz gehörte. Just dieser Pfarrer wird sich also statt der Toleranz und Nächstenliebe dem Aufstacheln der Bevölkerung widmen und anno 2017 zu einem diskriminierenden Rundumschlag gegen Frauen im Glauben ausholen.
Die feuerlose Variante des Scheiterhaufens heutzutage verlegt sich auf Mobbing und Cyberbullying. Aber auch das hinterlässt tiefe Wunden. So tiefe, dass bei der Sträggele eben keine verrückte Serientäterin dahinter steckt, sondern eine verwundete Person, bei der ein früherer Auslöser für einen ganz großen Racheschlag gereicht hat. „Ändern wir das Heute“ fordert Monika Mansour. Wer Luzerner Totentanz gelesen hat, versteht am Ende vielleicht besser, warum die Sträggele symbolisch so viel Zauber als Gegengewicht zu ihren Demütigungen und seelischen Verletzungen auftischt.
Bibliografische Angaben
Verlag: Emons
ISBN: 978-3-96041-268-7
Erstveröffentlichung: 2017
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