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Ralph C. Doege – Yume

Ralph C. Doege – Yume

Ein Mann steht im Jahr 2025 am Frankfurter Abflugterminal auf dem Weg nach Tokyo. Nervös, verlässt er doch sonst nie das Land und nun ist die Reise obendrein noch weit, in ein unbekanntes Land und ein Besuch im Krankenhaus: Sein Zwillingsbruder liegt nach einem Unfall im Koma. Er hat ihn schon jahrelang nicht mehr gesehen und reist nun auf Bitten seiner Schwägerin Mari nach Japan. Sein Bruder und Mari arbeiten als Neurowissenschaftler und ausgerechnet das Koma böte die Möglichkeit, ihre gemeinsame Forschungsarbeit einem Praxistest zu unterziehen.

Ralph C. Doege - Yume

Diese Forschungsarbeit nennt sich Yume, benannt nach dem japanischen Wort für „Traum“. Yume ist ein Interface, das Hirnaktivitäten visualisieren soll. Beim Bruder im Koma funktioniert Yume nicht, da das System in seinem Wachzustand trainiert wurde und mit den Hirnaktivitäten im Koma offenbar nicht viel anfangen kann. Kann Mari dieses Yume mit den Schlaf- und Traummustern des angereisten Zwillingsbruders besser abstimmen und vielleicht sogar einen Direktkontakt zwischen den Brüdern vermitteln?

Zwischen Traum und Realität

Was in der Zusammenfassung so einfach klingt, ist tatsächlich ein Ritt auf der Grenze zwischen Traum und Realität. Doege nutzt alles Möglichkeiten, um diese immer wieder zu verschieben. Der lange Flug und der Jetlag verschieben bereits die Empfindungen des angereisten Bruders. Dazu kommt nach der Landung die Auseinandersetzung mit einer Welt, in der kaum eine gewohnte Kommunikation möglich ist und die Müdigkeit dämpft die Möglichkeit, mit sprichwörtlich offenen Augen durch die Stadt zu gehen.

Nun bemüht sich der angereiste Mann, im Schlaflabor von Maris Team zu schlafen und gezielt an Bildmuster zu denken, mit denen sich Yume trainieren lässt. Er lässt sich mit dem Bruder verkabeln, um gemeinsame Bilder zu finden. Doch was erlebt derweil der verunfallte Zwilling im Koma?

Während das Forschungsteam die Messungen durchrechnet, wandelt ihr Gast zwischen Uni und Hotel durch die so fremde Stadt, gelegentlich von Mari zum Sightseeing eingeladen. Eine Handvoll schwarz-weiss Fotos dokumentiert seine Reise, als wolle er sich versichern, dass er wirklich da war. Komprimiert auf kaum 120 Seiten entsteht mit der Mischung aus Traumbildern und erlebten Szenen eine verwirrende Szenerie — bestehend aus zeitlichen Stufen, aus Rückblenden, Erlebnissen vor Ort, Erinnerungen, Träumen, Halbschlaf.

Sprunghafte Bilderwelten

Dabei sind sich die Brüder, obgleich sie Zwillinge sind, in ihrer Art nie ähnlich gewesen. Für den angereisten Mann wird die Zusammenarbeit mit Mari zugleich zur Reflektion der Familiengeschichte und der zentralen Frage, ob er dem eigentlich so fremden Menschen, mit dem ihm ausser ihrem Zwillingsdasein sonst nichts verbindet, tatsächlich helfen kann. Er reist für einen Mann nach Tokyo, mit dem er seit Jahren nicht gesprochen hat und mit dem er das während seines Aufenthalts vermutlich ebensowenig tun kann.

„Yume“ ist ein erzählerisches Experiment von Doege, auf das man sich einlassen muss und einlassen sollte. Die Erzählung gleitet ungefiltert durch die Stunden, samt Brüchen und Gedankensprüngen. Ein Stil, der „Yume“ zu einem ungewöhnlichen Erlebnis macht und für dem Erzähler vielleicht als ebenso surreale Stippvisite erscheint wie den Lesenden.

Bibliografische Daten

Verlag: Septime
ISBN: 978-3-902711-91-5
Erstveröffentlichung: 2020

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