Ross Macdonald – Gänsehaut

von Bettina Schnerr
2 Minuten Lesezeit
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„Ich habe ein Problem mit meiner Frau. Sie hat mich verlassen.“

Nach einer Zeugenaussage vor Gericht wird Lew Archer von Alex Kincaid angesprochen. Kincaid ist frisch verheiratet, aber schon sitzen gelassen. Er möchte, dass Archer seine Frau Dolly findet, nachdem ihn bereits zwei andere Anlaufstellen abgewiesen haben. Dass sie praktisch direkt nach der Hochzeit einfach so weggelaufen ist, will er nicht glauben. Viel eher meint er, ein bärtiger Besucher im Honeymoonhotel habe mit dem Verschwinden zu tun. Die ernsthafte Besorgnis von Kincaid berührt Archer, also nimmt er den Fall an.

Die Frau ist relativ schnell aufgespürt, aber der jungen Ehe hilft das zunächst nicht weiter. Ein Mord vor rund 10 Jahren warf das damals kleine Kind Dolly aus der Bahn und bis heute plagt sich die Frau mit Schuldgefühlen. Ausgerechnet Dolly wird nun in einen neuen Mordfall verwickelt. Mit Hilfe des Psychiaters Dr. Godwin sorgt Archer dafür, dass Dolly Ruhe in einer Klinik findet statt vom Sheriff unter Druck gesetzt zu werden. Dolly böte sich so perfekt als Schuldige an, dass es dem Sheriff gerade recht käme, einer wie Archer aber misstrauisch wird. Simple Lösungen gibt es seiner Erfahrung nach selten. Archer gräbt in Dollys Familiengeschichte und stellt fest, dass es wohl einen Zusammenhang zwischen beiden Morden gibt.

Diese Konstellation ist typisch für Ross Macdonald. Um einen aktuellen Fall zu lösen, muss die Vergangenheit analysiert und verstanden werden. Manch eine Entdeckung wirft Fragen auf. Manch eine lässt bereits Entdecktes in neuem Licht erscheinen. In „Gänsehaut“ spielen falsch verstandene Liebe, Besitzgier und tiefe Abneigungen eine maßgebliche Rolle. Erst als Archer auf einen weiteren Mord vor vielen Jahren stößt, kann er die Abhängigkeiten der Beteiligten entschlüsseln.

Diese Rückblenden zeigen auf eindrucksvolle Weise, wie früh und wie verhängnisvoll Weichen im Leben gestellt werden können. Dem Philosophen Kierkegaard wird der Aphorismus zugeschrieben: „Verstehen kann man das Leben nur rückwärts. Leben muß man es vorwärts.“ Bei Ross Macdonald könnte man das im übertragenen Sinne als Leitspruch für seine Bücher verstehen.

Klare Bilder und klare Analysen

Das Buch beeindruckt noch in einem weiteren Punkt: Der Sprache. Macdonald serviert nie unheilschwangere Standards à la „Doch sie sollte nie mehr Gelegenheit bekommen, mit ihm zu reden.“ Bei ihm stellt sich das Schicksal mit kleinen Bildern wie diesem vor:

„Auf der Terrasse lag eine Wildtaube mit schillerndem Federkleid und gebrochenem Genick. Ein in den Staub auf dem Fensterglas gezeichneter Abdruck zeigte an, wo der Vogel gegen die Scheibe geflogen war.“

Im Prinzip reicht das schon völlig aus, um ein Schicksal anzudeuten und -wie in diesem Fall- gleichzeitig eine Assoziation mit einer Person zu erzeugen. Wenn wenige Seiten später das Motiv des Vogels, der gegen eine Scheibe fliegt, wiederholt wird, vertieft sich das Bild – und man kommt nicht drumrum, solche Kunstgriffe noch tagelang zu bewundern.

Bleibt das Fazit, dass „Gänsehaut“ ein ausgezeichnet geschriebener Krimi ist, der sich mit seinem Stil deutlich gegen die Krimis abhebt, die sich gerne an neutralen Nebenhandlungen abarbeiten. Ross Macdonald zieht seine Handlung durch und erzählt trotzdem mit wenigen Worten eine Menge über die Leute, mit denen Lew Archer zu tun bekommt. „Gänsehaut“ erzählt viel von einer tiefen Einsamkeit seiner Figuren, die nicht mit Nähe umgehen können und letztlich daran scheitern.

„Mit Revolvern ist jetzt Schluss‘, sagte ich. Schluss jetzt mit allem.“

Ross Macdonald - Gänsehaut

Bibliografische Angaben

Verlag: Diogenes
ISBN: 978-3-25730-024-6
Originaltitel: The chill
Erstveröffentlichung: 1963
Deutsche Erstveröffentlichung: 1966
Übersetzung: Karsten Singelmann

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