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Vittorio Magnago Lampugnani – Bedeutsame Belanglosigkeiten

Vittorio Magnago Lampugnani – Bedeutsame Belanglosigkeiten

Vittorio Magnago Lampugnani - Bedeutsame Belanglosigkeiten

Gehen wir heute durch Innenstädte oder Wohnviertel, gehen wir regelmäßig an einer Vielfalt von Gestaltungselementen vorbei. Wir umrunden Poller, passieren Telefonzellen, werfen eine Brötchentüte in den Abfallkübel oder schließen das Fahrrad an einen Laternenpfahl. Wir nutzen ganz selbstverständlich Straßenschilder und Hausnummern zur Orientierung, setzen uns für die Mittagspause auf eine Bank und warten an der Haltestelle auf Bus oder Tram. All das sind „kleine Dinge im Stadtraum“, die Lampugnani in seinem Buch „Bedeutsame Belanglosigkeiten“ näher vorstellt. Das Buch spürt auf, wie sie ihren Weg auf Straßen und Plätze gefunden haben.

Der italienische Architekt und Stadtwissenschaftler unterteilt sein Buch dazu in drei Abschnitte: Mikroarchitekturen, Objekte und Elemente. Zu den Mikroarchitekturen zählt alles, was kleine Gebäudestrukturen benötigt. Dazu gehören Trinkhallen öffentliche Toiletten, Metroeingänge, Telefonzellen oder Kioske. Objekte sind Dinge, die nur kleine Eingriffe nötig machen oder wenig Platz beanspruchen. Dazu gehören Bänke, Abfallkörbe, Ampeln, Uhren, Beleuchtung oder Straßenschilder. Schließlich die Elemente. Das sind (mit Ausnahme der Schaufenster, wie ich finde) quasi die Grundausstattungen: Einfriedungen, Bodenbeläge, Bürgersteige oder Schachtdeckel.

Schon immer da gewesen oder lieber etwas Neues?

„Belanglosigkeiten“ sind diese Dinge meist, weil sie uns heute so selbstverständlich erscheinen. Einige haben allerdings eine lange Geschichte. Bodenbeläge oder Bürgersteige gehören dazu: Pflasterungen etwa kennt man aus Mesopotamien, Bürgersteige von den Römern. Sogar öffentliche WC-Anlagen und freilich Brunnen sind Jahrtausende alt . Manche davon gerieten allerdings in Vergessenheit.

Vieles, was wir im Stadtbild heute gewohnt sind, ist hingegen relativ neu. Das Buch erzählt die Geschichte der „Stadtmöblierung“ und welche Verwandlung manche Dinge dabei durchmachten. So wie die Trinkhalle, die sich im 19. Jahrhundert in den Kurorten etablierte. Hallen, in denen wettergeschützt von den Heilwasserquellen getrunken werden konnte. In den Städten griff man die Idee auf: Das Trinken von Brunnen- oder Leitungswasser war oft riskant und die Arbeiter griffen daher oft auf Alkohol zurück. Trinkhallen boten ihnen alkoholfreie Alternativen und zu Limo, Kaffee oder Milch kamen Stück für Stück weitere Angebote hinzu.

Straßennamen für die Bürokratie

Andere Bauelemente wiederum sorgten für Aufsehen oder für gröberes Durcheinander. Straßenschilder wurden zu Beginn ihrer Existenz in Paris oft heruntergerissen, weil den Anwohnern die Namen nicht gefielen. Kein Wunder also, dass ältere Straßenzüge ihre Namen in Hausmauern eingemeißelt tragen. Orientierung war seinerzeit nicht Sinn der Sache: Es war schlicht bessere Steuerkontrolle.

Auch Hausnummern gehen eher auf diese Bürokratie als auf Orientierung zurück. Für Durcheinander sorgten daher unterschiedliche Zählmuster, die sich innerhalb einer Stadt bereits unterscheiden konnten.

Der Zeitgeist rudert zurück

Ladenauslagen spiegeln auf ihre Art die Moderne wieder: Sie sind eigentlich „uralt“. Früher diehten sie Lebensmitteln und Verbrauchswaren. Alles andere wurde nur auf Bestellung gefertigt und musste nicht vorgezeigt werden. Erst mit dem Aufkommen größerer Manufakturen und Teiltechnisierung mussten plötzlich Waren unter die Leute gebracht werden, die sie nicht brauchten. Das Schaufenster war geboren. Telefonzellen andererseits erleben das Gegenteil: Mobiltelefone lassen sie nutzlos werden.

„Bedeutsame Belanglosigkeiten“ ist konsequent schwarzweiß bebildert. So passen die vielen historischen Aufnahmen mit den wenigen moderneren Bildern ausgezeichnet zusammen. Zugleich muss sich Lampugnani oft auf Beschreibungen beschränken. Das ist vor allem bei den Fallbeispielen der Moderne der Fall. Wer dann zum Beispiel Näheres zum faltbaren Kiosk im Londoner Canary Wharf erfahren möchte, muss Richtung Internetrecherche abbiegen. Manchmal ist das schade, doch hat Lampugnani das Buch mehr als Sachbuch denn als Bildband angelegt. Die detaillierte Recherche, zusammengetragen aus europäischen Metropolen, prägt das Buch — dennoch gelingt es, allzu lange Abhandlungen zu vermeiden. Bisweilen zeigen Literaturzitate, wie prägend die Entwicklungen für die zeitgenössischen Autoren waren.

Mir hat’s Spaß gemacht, in der Geschichte der Stadtmöblierung zu stöbern und dabei auch einen Einblick zu bekommen, wie sich die Städte in den letzten rund 300 Jahren entwickelt haben — denn diese brachten auf Grund der großen Einwohnerzahlen diese Entwicklungen überhaupt in Gang. (Und unter uns: Manch eine Belanglosigkeit verdiente inzwischen vielleicht sogar ein eigenes Buch.) Wer sich also für die Geschichte der Stadtentwicklung interessiert, ist hier richtig.

Hinweis
Für die Taschenbuchausgabe von 2023 wurde der Text nach Verlagsangaben „umfassend überarbeitet, erweitert und neu bebildert“. Meine Rezension bezieht sich auf die ältere Ausgabe in Klappenbroschur, die inzwischen vergriffen ist.

Bibliografische Angaben

Verlag: Wagenbach

Klappenbroschur (2019)
ISBN: 978-3-8031-3687-9, vergriffen
Taschenbuch (2023)
ISBN: 978-3-8031-2856-0


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