Fuminori Nakamura – Der Dieb

von Bettina Schnerr
4 Minuten Lesezeit
Fuminori Nakamura - Der Dieb
Fuminori Nakamura - Der Dieb

Ein kleiner Taschendieb erledigt in Tokyo dezent seine Arbeit, in belebten Straßen und überfüllten U-Bahn-Wagen. Gezielt sucht er nach reichen Männern, denen er geschickt das Geld abknöpft. Weiter geht er nicht. Er verzichtet auf das Ausschlachten oder den Weiterverkauf von Kreditkarten und anderen Dingen in der Geldbörse, denn er will nicht viel mehr als einen kleinen Lebensunterhalt. Er lebt unauffällig, einsam und zurückgezogen und hat nur einen nennenswerten Kontakt, den Taschendieb Ishikawa. Die beiden arbeiteten einst als Team und es verbindet sie eine Art berufliche Freundschaft. Man gibt sich Tipps, raucht zusammen und hockt hin und wieder beieinander. Ansonsten geht jeder seine eigenen Wege.

Ishikawa ist ambitionierter und arbeitet für den einflussreichen Yakuza Kizaki. Kizaki erfährt von der Bekanntschaft und lässt die beiden Kollegen bei einem merkwürdigen Coup zusammen arbeiten. Beide verschwinden danach von der Bildfläche. Doch als der Taschendieb nach Tokyo zurückkommt, läuft er erneut in Kizakis Arme: „Du kannst mir nützlich sein und mich zugleich ein wenig unterhalten …“

Austauschbare „Spielfiguren“

Kizaki hat einen Trumpf in der Tasche. „Obwohl ihr euch für ein Leben als Gangster entschieden habt, werdet ihr anhänglich.“ Der überaus gut informierte Kizaki weiß, dass sich der Dieb um einen kleinen Jungen kümmert. So sehr die Kleinkriminellen für ihren Job freiwillig ungebunden leben, ihr Verantwortungsgefühl haben sie nie ganz verloren. Der Junge erinnert den Dieb an seine eigene Kindheit und seinen eigenen Werdegang. Deshalb beschützt er den Bub vor aufmerksamen Ladendetektiven und erteilt die eine oder andere Lehrstunde. Auf diese Weise unterstützt er ihn und dessen Mutter gleichermaßen. Umgekehrt akzeptiert der Junge den Dieb als „Ersatzvater“. Mit einem skrupellosen Gangster wie Kizaki können sie es allerdings nicht aufnehmen. Er setzt den Dieb und seinen Lehrling ein wie Spielfiguren, denn genau so versteht er sein Metier.

Nakamura spielt in seinem Roman geschickt mit den Motiven der Einsamkeit, einem typischen Thema der hierarchischen und strukturierten Gesellschaft Japans. Über das Spiel mit dem Nachnamen bleiben die kleinen, unerkannten Gauner austauschbar. Ishikawa nennt sich irgendwann aus Sicherheitsgründen Niimi; der Taschendieb selbst bleibt im Roman fast namenlos. Das passt zu dieser Figur des einsamen Diebes, der keine gesellschaftlichen Wünsche und die Unauffälligkeit beruflich nötig hat. Nicht einmal Ishikawa weiß, mit wem er es genau zu tun hat. Es würde mich nicht wundern, wenn die Namen einem japanischen Leser Botschaften über die Charaktere auf den Weg geben (der falsche Zweitname Niimi enthält zum Beispiel sinnigerweise das Zeichen für „neu“).

Arbeit ohne Anonymität

Bezeichnenderweise gibt es nur einen Menschen, der den Namen des Diebes herausfindet und ein Mal nennt, Kizaki. Damit gewinnt Kizaki eine besondere Macht über den Dieb. Das Wissen alarmiert, beeindruckt und hält ihn an der kurzen Leine. Der Dieb weiß genau, dass er besser nicht für Kizaki arbeiten sollte, aber bei diesem Wissen bleibt es.

Nakamura beherrscht es, auf knapp mehr als 200 Seiten eine dichte Erzählung mit einem Minimum an Worten zu schaffen. Da ist kein Satz zuviel, da passiert alles geradeheraus und bündig. Man begreift, dass die Weichen gestellt sind, vielleicht noch viel später als der Taschendieb. Weil wir viel mehr gebunden sind, Sympathien empfinden und hoffen wollen. Alles Emotionen, die in der Welt Kizakis nicht existieren.

Kühl und dicht strukturierte Laufbahn

Als wäre diese kühle Logik nicht genug, fordert Kizaki unser Verständnis von Schicksal heraus. Verläuft das Leben absolut oder haben wir eine Wahl? So geschickt der Dieb beruflich arbeitet und plant, so wenig Energie steckt er in sein Leben. Lohnt es sich oder lohnt es sich nicht, in dieses Leben Struktur reinzubringen und persönliche Ziele zu haben? Oder gibt es Menschen wie Kizaki, die für unsere Bahnen verantwortlich sind? Der Dieb begreift seinen Auftrag, er erkennt die Bahn und nimmt sie kommentarlos als die seine an.

„Ich spüre, dass Menschen unvermeidlich Böses in sich tragen, zugleich aber nach dem Besseren streben. Ich schreibe über Leute, die irgendwo dazwischen gefangen sind.“

Mit diesem Worten äußerte sich Fuminori Nakamura einmal in einem Interview. Vermutlich ertappt sich auch der Leser bei so einem Kampf im Kleinen, wenn er mit dem Taschendieb mitfiebert. Natürlich, der Mann hat Prinzipien, eigene Regeln und beweist fürsorgliche Fähigkeiten. Aber er ist nun mal ein Kleinkrimineller, einer, den wir ansonsten nicht in die Nähe der Haustür lassen würden. Für mich ist das Fazit bei diesem roman noir ziemlich klar: Nakamuras deutschsprachiges Debut wirkt lange nach und hinterlässt den Wunsch nach mehr.

Bibliografische Angaben

Verlag: Diogenes
ISBN: 978-3-257-25706-945-7
Originaltitel: Suri, 掏摸
Erstveröffentlichung: 2010
Deutsche Erstveröffentlichung: 2015
Übersetzung: Thomas Eggenberg

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