Dieser recht kurze Roman von Funinori Nakamura ist das Debut des japanischen Schriftstellers. Zusammenfassen lässt es sich kompakt: Der Student Nishikawa stromert immer wieder durch Tokyo und in einer Regennacht findet er unter einer Brücke einen Toten. Neben dem liegt ein Revolver und Nishikawa schnappt sich die Waffe. Aus diesem Zufallsfund entwickelt sich eine Obsession: Er beginnt, die Waffe richtig fürsorglich zu pflegen, in teure Tücher zu betten und auch sein Wesen verändert sich. Der bis anhin recht desinteressierte und wenig empathische Student fühlt sich mutiger und bekommt neuen Antrieb. Vier Kugeln sind nämlich noch im Lauf und die will er abfeuern.
Das gesamte Setting ist kein Kriminalfall, sondern vielmehr eine Kriminalstudie. Nakamura spürt der Frage nach, was der Waffenbesitz mit einem Menschen machen kann. Der Revolver wird zum Auslöser einschneidender Veränderungen.
Das nahezu waffenlose Land
In Japan herrschen weltweit mit die strengsten Gesetze bezüglich Handfeuerwaffen. Während es Deutschland auf etwa 30 Waffen pro 100 Einwohner bringt, sind es in Japan 0,6 (Quelle). Das Aussieben der Zulassungen beginnt bei der Tätigkeit: Wer beruflich keine Waffe benötigt, bekommt keine. Jene, die übrig bleiben, müssen hohe Anforderungen erfüllen und oft prüfen die Behörden zusätzlich das private Umfeld. Inklusive regelmäßiger Nachtests und wer durchfällt, ist die Waffe los. Seit Jahren ballert nicht einmal die Yakuza großartig herum.
Diese Hintergründe kenne ich zwar in groben Zügen. Doch die spektakulären Zahlen, die sich daraus ergeben, nochmals Schwarz auf Weiß zu sehen, hat was: In den USA entfielen 2017 4,4 Morde durch Schusswaffen auf 100.000 Einwohner, in Japan lag diese Zahl 2017 bei 0,4. Im Jahr 2016 starben überhaupt nur 8 Menschen in Japan durch Schusswaffen und in einigen Jahren lag die Zahl sogar schon bei Null. Überhaupt kamen mir die USA bei der Lektüre von „Der Revolver“ gegen Ende öfter in den Sinn und schließlich schaute ich mir die Reaktion einiger Rezensenten auf das Buch an.
Mir kommen die Waffennarren der USA in den Sinn
Dabei stieß ich zuerst darauf: „The Gun is rather overwrought — though part of this is surely a result of how very differently guns and gun-ownership are seen in Japan and elsewhere.“ (M.A. Orthofer, The Complete Review). Die Faszination des Revolvers, wie Nakamura sie beschreibt, scheint sich aus dem Seltenheitswert einer Waffe in Japan zu speisen. Wie man auf diese Schlussfolgerung kommt, kann ich nicht nachvollziehen.
Waffen sind nicht hypnotisch, weil sie selten sind. Umgekehrt wird ein Schuh daraus und Nakamuras Roman macht das erzählerisch deutlich: Japan macht Schusswaffen selten, gerade weil sie um deren generelle Wirkung wissen. Denn die Rechnung ist unglaublich simpel: Je weniger Waffen es gibt, desto sicherer ist das Leben. Mag sein, dass Nishikawas Verhalten in den USA weniger auffallen würde, weil Waffen so alltäglich sind. Doch hätte es deshalb geringere Auswirkungen? Ich fürchte nicht.
This account of Nishikawa’s becoming more and more a slave to the gun, more and more delighted with his unleashed aggression, and, inevitably, succumbing to the nearly erotic thrill of actually using it on live targets, might almost be a thesis on the seductive potential of handguns. (This behavior would be far less striking in an American setting.)
Allison Markin Powell, Kirkus Reviews
Eine „zeitgemäße Veröffentlichung“
Die Veröffentlichung von „The Gun“ im Jahr 2015 fiel in den USA mehr oder weniger mit dem Terroranschlag von San Bernardino zusammen. Und tatsächlich brachten einige Rezensenten das Thema des Buchs mit den lautstarken Forderungen nach schärferen Waffengesetzen in Verbindung: Im Blog von Brazos Bookstore heißt es: „It’s appearance in English is disturbingly timely, but in light of America’s own epidemic of gun violence, it is all the more relevant.“
Der Roman von Nakamura geht in „Der Revolver“ über die Charakterstudie eines Einzelnen hinaus, ob so vom Autor gewollt oder nicht. Die Frage ist letztlich eben nicht, ob Nishikawa vom Revolver so manipuliert wird, weil er Seltenheitswert hat. Sondern vielmehr, dass der Besitz grundsätzlich zur Benutzung verleitet. Dass der tödliche Zweck der Waffe klar ist und Nishikawa die Tragweite sehr wohl begreift.
Unabhängig davon, ob ich es irgendwann tun würde oder nicht — wichtig war, dass ich die Möglichkeit in der Hand hatte, erfüllt vom kribbelnden Gefühl der Verlockung.
Fuminori Nakamura, in: Der Revolver
„Es fühlte sich an, als würde der Revolver mir helfen.“
Von der puren Möglichkeit zum tatsächlichen Einsatz ist der Weg eben nicht mehr weit und Japan hat darauf sehr konsequent reagiert. Unter diesem Aspekt verhandelt der Debutroman von Fuminori Nakamura ein größeres Thema als eine individuelle Tragödie. Deswegen bleibt der Roman keinesfalls auf den Schauplatz Japan beschränkt. Wer meint, Nichikawas Emotionen wegen des Schauplatzes weniger relevant einschätzen zu können, unterschätzt, dass Nakamura die Psychologie seiner Figur ziemlich gut ausloten kann.
I had barely cracked the spine of The Gun when I learned, via a stranger’s laptop screen at a coffee shop, of the recent shooting in San Bernardino. It seems fitting that Fuminori Nakamura’s debut novel will be released in English while our national dialogue is engulfed in the firestorm of gun-control debate.
Matt E. Lewis, Los Angeles Review of Books
Fuminori Nakamura fragt auch in seinen anderen Romanen nach Schicksal und Vorherbestimmung. Oder danach, wie sehr wir unsere Handlungen selbst bestimmen und steuern können. Kann man Schlechtigkeit vererben oder kann man solchen „Prämissen“ ausweichen? Gerade weil in anderen Ländern Schusswaffen weiter verbreitet sind, müsste sich die Frage andernorts vielleicht noch viel dringender stellen.
Bibliografische Angaben
Verlag: Diogenes
ISBN: 978-3-257-07061-3
Originaltitel: Jū, 銃
Erstveröffentlichung: 2003
Deutsche Erstveröffentlichung: 2019
Übersetzung: Thomas Eggenberg
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