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Bleisatz

Literatur, Rezensionen & mehr

Siri Hustvedt und die Page 99

Siri Hustvedt und die Page 99

… hen, klar? Ich konnte es einfach nicht ausstehen.

Die Erzählerin erinnert sich an ein Gespräch, in dem offenbar diese Worte fielen. Es ging um eine Frau namens Harriet Burden. Was nach nur sechs Zeilen folgt, ist kein rein belletristisches Erzählen mehr und das erfordert ein Umdenken. Was kommt jetzt?

„Dann ist da noch die Sache mit dem Geschlecht.“ So geht es los und das Buch zählt Künstlerinnen auf, die jahrelang unbeachtet wirkten. Darunter Alice Neel und Louise Bourgeois, die erst mit über Siebzig bekannt wurden. Auch besagte Harriet Burden gehöre in diese Riege wenig beachteter Künstlerinnen. Damit schließe ich auf einen wichtigen Aspekt des Buchs: Um Burden, ihr Leben und ihre verkannte Kunst scheint scheint sich dieses Buch zu drehen.

Es folgt die Malerin Joan Mitchell, deren Bedeutung für den abstrakten Expressionismus erst nach ihrem Tod gewürdigt wurde. Ein wenig Recherche verrät, dass nu Burden von Husvedt erfunden wurde. Die anderen Künstlerinnen gab es tatsächlich. Damit scheidet die Idee einer Romanbiografie aus, die in Frage hätte kommen können.

Siri Hustvedt listet noch weitere auf und diese Buchseite entwickelt sich zu einer Aufklärung über die mangelnde Wertschätzung weiblicher Kunst. Es fehle an „ernsthafter Aufmerksamkeit“ und „viele Kunstkritiker besprachen lieber ihr Leben als ihre Kunst“. Heya, der Literaturbetrieb lässt grüßen!

„Lee Krasners Werk würde in der Kunstszene dem ihres Mannes untergeordnet.“ Das war übrigens Jackson Pollock. Hustvedt schließt die Abhandlung mit der Analyse: „Interessant ist, dass zwar nicht alle, aber doch viele Frauen erst gefeiert werden, als ihre Tage als begehrenswerte Sexualobjekte vorüber waren.“ Das lasse ich so stehen. Der Satz hat eine giftige Sprengkraft, wenn man sich die Zwischentöne ein paar Mal durch’s Ohr zieht.

Auf jener Seite, die dieser Rubrik den Namen verleiht, die Page 99 nämlich, könnte man im ersten großen Abschnitt „Künstlerin“ durchgehend mit „Autorin“ ersetzen. Ich erkenne so viele heiß diskutierte Aspekte der Literaturszene wieder.

Der Text bleibt sachlich. Bis zum Ende meines Page 99-Tests behält er den Charakter einer Reportage, die Harriet Burden vorstellt und dabei spezielle Eigenheiten des männlich dominierten Kunstmarkts beleuchtet: New Yorker Galerien stellen zu 80% Männer aus, heißt es, dabei würde die Hälfte aller Galerien von Frauen geführt. Museen und Zeitschriften hielten es nicht anders. Männer erzielten ausnahmslos deutlich höhere Preise.

Die Kunstwelt hat’s gemerkt und versucht, ein wenig gegenzusteuern. Die Tate Britain hängte ab April 2019 für mindestens zwei Jahre die Bilder männlicher Künstler ab. Zum 100-jähirgen Jubiläum des Bauhaus in Weimar stellt die Presse fest, dass sich 1919 eigentlich mehr Frauen als Männer eingeschrieben hatten, wohingegen die Popularität der Künstler antiproportional überwog. In der Literaturwelt gibt es parallel nicht umsonst Aktionen wie #Frauenlesen oder #Autorinnenschuber.

Harriet Burden dreht den Spieß auf ihre Weise um: Sie verkauft ihre Kunst unter verschiedenen männlichen Namen. „Das Ergebnis war frappierend. Als Werk eines Mannes präsentiert, fand ihre Kunst plötzlich ein enthusiastisches Publikum.“ Robert Galbraith und George Eliot winken Harriet Burden wie wild zu!

Siri Hustvedt definiert die Geschichte Burdens als „nicht nur feministische Parabel“ und verweist darauf, dass Geschlechtervorurteile eine entscheidende Rolle bei der Rezeption von Burdens Werk spielten. Damit schließt Seite 99 und hinterlässt auf nur zwei Seiten eine kompakte Übersicht über Mechanismen des Kunstmarkts, die das gesamte Buch prägen. Das vermute ich jedenfalls. In meinen bisherigen Page 99-Experimenten gab es bis heute noch kein Buch, dessen zwei willkürlkich herausgezogene Seiten derart alleine stehen können wie diese hier. Romanhandlung gibt es keine, dafür eine Einordnung der Hauptperson als Künstlerin, die — Fiktion hin oder her — als Abrechnung mit einer gesamten Branche steht.

Dabei schien jede ihrer Masken einen anderen Aspekt ihrer Imagination freizulegen, und …

Linktipp: The Myth of the Artistic Genius, in: The Paris Review
„In a recent study, a group of people were shown a series of computer-generated paintings and told that the works were made either by a man or by a woman. The participants […] rated the randomly generated art said to be created by male artists as more “compelling” and “valuable” than the art said to be created by female artists. “Participants are unable to guess the gender of an artist simply by looking at a painting,” conclude the study’s authors. “Women’s art appears to sell for less because it is made by women.”

Das Buch

Siri Hustvedt – Die gleißende Welt
Verlag: rowohlt
ISBN: 978-3-498-03024-7
Originaltitel: The Blazing World
Erstveröffentlichung: 2014
Deutsche Erstveröffentlichung: 2015
Übersetzung: Uli Aumüller

„Open the book to page ninety-nine and read, and the quality of the whole will be revealed to you.“
Ford Madox Ford

Im angelsächsischen Raum kennt man den Page 99-Test gut; der Blog Page 99 Test widmet sich aussschließlich dieser Idee. Im deutschsprachigen Raum nutzt Tell das Ford’sche Konzept. Bleisatz erweitert auf zwei Seiten und nein, es ist keine Rezension. Es ist eine Momentaufnahme dessen, was ein Textfragement mit mir als Leserin macht — zu einem Zeitpunkt, an dem die Story fortgeschritten ist, die Personen längst eingeführt sind.

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