Im -wie stets- schmalen Büchlein bleibt Arno Camenisch in „Der Schatten über dem Dorf“ seinem Schauplatz treu: Tavanasa in der Surselva. Ein kleines Dorf mit gerade einmal 25 Häusern, wo man sich kennt, wo man bei den Nachbarn ein und ausgeht. Wo man sich in der Beiz trifft und der sonntägliche Kirchgang weniger Kirchgang ist als viel mehr ein Ritual, bei dem man sich trifft, weil die Arbeitswoche nicht immer die Zeit dafür hergibt. Was Camenischs Erzählung begleitet, ist wie immer Melancholie. Das Wissen um ein Dorf, dessen Gepflogenheiten langsam einschlafen. Sei es, weil die Leute wegziehen oder sich im Dorf kaum noch arbeiten lässt. Weil die Schule zu macht oder die Touristen ausbleiben. Was bei Camenisch aber auch immer dabei war, ist eine gute Portion Schalk. Das ist in diesem Buch ungewohnt anders.
Dieses Mal legt sich ein Schleier der Trauer über das Dorf und jener zieht sich über Jahre durch die Geschichte der Menschen. Arno Camenisch tritt zum ersten Mal nicht als versteckte Randfigur auf. Er selbst wird zum Erzähler, der einen kurzen Halt im Ort seiner Kindheit macht und sich auf einem kleinen Rundgang zwischen den Häusern erinnert. In welchen Häusern er fast täglich ein und aus ging, welche Wege man kannte und welche Schleichwege die Kinder nahmen. Welche Streiche er spielte und wie Arbeit die Tage der Bewohner prägte. Von den ersten Ferienaushilfen, die Kinder zum Beispiel auf der Alm absolvierten, bis zum Großvater, der fast täglich in seiner Werkstatt anzutreffen war.
… und irgendwie kam er immer zu dem Schluss, dass dieser Gedanke an das Geschehene ihn schwer machte im Herzen, auch ihm ging es gleich, dass er lieber von den schönen Momenten erzählte und von den lustigen, und irgendwie blieb immer etwas ungesagt, all die Jahre über. Vielleicht würde es sich besser anfühlen, es ausgesprochen zu haben, vielleicht hätte es etwas Heilsames, für alle …
Das Gären unter der Oberfläche
In kleinen Etappen nähert der Erzähler sich zwischendurch der Tragödie. Immer wieder spricht er die Plaun Vitg an, die Dorfwiese oberhalb der Häuser, auf der die Großelterngeneration noch feierte, auf der inzwischen aber kaum mehr jemand anzutreffen ist. Die Leute hier meiden die Dorfwiese, sie meiden aber auch das Sprechen darüber. Camenisch erinnert sich daran, wie die Mutter mit ihm und den Bruder zwar an drei Kindergräbern halt macht, aber stets ohne Erklärung wieder weiterzog. Und so, wie man sich überhaupt beim Erzählen schwerer Erinnerungen schrittweise Mut macht, bevor man zum Punkt kommt, so zieht auch Arno Camenisch seine Erzählung stückweise auf.
Dabei wird spürbar, dass die Menschen der Region schon einige Katastrophen miterlebt haben. Aber sie wissen zu unterscheiden. Mit Steinschlag, der Häuser unter sich begräbt, gehen die Menschen ganz anders um als mit einer Katastrophe, die drei Kinder das Leben kostet. Die Natur ist als dominierender Faktor akzeptiert; Zufälle, Vermeidbares oder Pannen sind es nicht, Dinge, die man sich nicht erklären kann. Schon gar nicht, wenn Kinder betroffen sind.
„Der Schatten über dem Dorf“ hat viel von dem Schatten, in dem Tavanasa jeden Winter monatelang liegt: Er kommt immer wieder und umschließt die Leute. Aber er lässt sie auch stets für eine ausreichende Zeit los und lässt das Leben weitergehen. Man lernt, mit Verlust und Trauer umzugehen, sie mitzunehmen und als Teil des Lebens anzunehmen. Wenn man sie, so wie Camenisch, gelegentlich erzählt.
Bibliografische Daten
Verlag: Engeler
ISBN: 978-3-906050-80-5
Erstveröffentlichung: 2021
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