Krimi-Klassiker neu entdeckt
Jedes Jahr im Herbst knöpfe ich mir ein paar alte Schätze des Krimigenres vor. Dieses Jahr gibt es diesen Klassikerherbst bereits zum vierten Mal. Bei älteren Krimis gibt es immer wieder Überraschungen. Mal entdecke ich einen vergessenen Titel, der sich immer noch hervorragend liest, mal kann man auch auf ein Buch treffen, das eher durchschnittlich gewachsen war, mal finde ich, müsse man einen einst richtig bekannten Titel aus dem Dornröschenschlaf holen.
Die Regeln waren bis anhin so: Keines der Bücher darf jünger sein als 40 Jahre; folglich landen wir im Aktionsjahr 2018 bei einem Veröffentlichungsjahr der Bücher von 1978 und davor. Dieses Jahr patze ich, zumindest was diese Regel angeht, bei einem Buch. Das liegt an Barbara M. Gill, die ich sonst noch sechs Jahre hätte im Regal liegen lassen müssen. Nachdem ich den Krimi aber schon einmal für die Instagram-Aktion #retrocover in der Hand hatte, wollte ich das Buch nicht wieder in der Versenkung verschwinden lassen. Ihr seht mir es hoffentlich nach. Legen wir gleich mit ihr los:
Barbara M. Gill – Der zwölfte Geschworene
Robert Quinn wird als Geschworener ans Gericht berufen. Zugeteilt wird er dem Prozess gegen Carne, einen sehr beliebten und erfolgreichen TV-Moderator, dem der Mord an seiner Ehefrau vorgeworfen wird. Vor Monaten verschwand die Frau spurlos, während fast zeitgleich das Cottage abbrannte, in dem sie üblicherweise über Wochen hinweg wohnte. Erst nach dem Leichefund sehr viel später war klar, dass sie einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen war. Carne war der einzige Verdächtige.
Quinn selbst lebt in einer WG mit mehreren Straßenmusikern, seit seine Stelle als Redakteur der Times wegrationalisiert worden war. Seine Frau lebt mit dem gemeinsamen Sohn inzwischen in Deutschland. Als die Musiker eine junge Streunerin aufsammeln und aus Mitleid mit nach Hause bringen, ist es für Quinn erst einmal kein Problem, sie im leeren Kinderzimmer unterzubringen. Mulmig wird ihm erst als er herausfindet, wen er ins Haus gelassen hat: Carnes Tochter Frances, die sich vor dem Prozess und dem Medienauflauf versteckt.
Das Buch spielt innerhalb nur weniger Tage und folgt zeitlich dem Ablauf zwischen Prozessbeginn und Urteilsverkündung. Quinn fährt zweigleisig: Der Tochter, die sichtlich verstört ist, benötigt ganz sicher Unterstützung; denkbare juristische Probleme für ihn blendet er aus Hilfsbereitschaft aus. Derweil verfolgt er den Prozess und muss sich am Ende auf Grund von Zeugenaussagen und Indizien für oder gegen einen Schuldspruch entscheiden.
Die Geschichte ist gut erzählt, doch manche Elemente kennt man schon aus anderen Fällen. Sie findet in den Achtzigern statt und bringt in gewisser Weise Zeitlosigkeit ins Spiel — im Prinzip könnte Quinn die Idee ebenso gut heute erleben. Und doch ist es kein Fall, dessen Präsenz man in weiteren zwanzig Jahren noch für nötig erachten müsste. Es ist solide Krimiunterhaltung ohne Klassikerpotenzial.
Verlag: rororo
ISBN: 3-499-43204-8
Originaltitel: The twelfth juror
Erstveröffentlichung: 1984
Deutsche Erstveröffentlichung: 1986
Übersetzung: Edith Massmann
Stefan Murr – Kein Mord ist auch Mord
Walter Kublitz steht vor Gericht. Die Anklage ist überzeugt davon, dass er den Makler Gilbert Radek ermordet hat. Kurz vor der Urteilsverkündung fordert Kublitz die Neuaufnahme der Beweisführung und dafür braucht er ein Klavier im Gerichtssaal. Die Prozesspause, bis das Klavier aus der Kantine herangeschafft werden kann, zum nutzt Stefan Murr für die Aufbereitung des Falls Radek. Der reicht nicht nur bis zu einer denkwürdigen Nacht auf dem Land, bei der ein paar Dinge durcheinander geraten und die der Polizei heftige Rätsel aufgibt.
Kublitz besitzt eine Wäscherei und hat wenig mit der Welt der Makler zu tun. Radek dagegen hat viel mehr Eisen im Feuer. Er lebt Tag und Nacht für das Immobiliengeschäft und jagt mit Beharrlichkeit ein spezielles Grundstück. Gleichzeitig versucht er, den Verehrer seiner Tochter abzuwimmeln, der weder die Tochter kriegen noch ins Geschäft einsteigen soll. Feinde hat Radek in verschiedener Hinsicht, da wäre Kublitz eigentlich das kleinste Licht von allen.
Murr spinnt die Geschichte von Walter Kublitz so geschickt, dass sich alle Fäden tatsächlich erst entwirren, als die Verhandlung gegen Ende mit dem Klavier im Saal eine neue Wendung erfährt. Eine Verjährung für ein altes Verbrechen fällt ihm zugleich passend in die Hände. Zeugen und Beteiligte fallen auf den letzten Seiten wie Dominosteine solange, bis eine ganze tragische Geschichte zutage kommt.
Das Buch von Murr lohnt den Griff ins Klassikerregal. An dieser Stelle muss ich interessierten und neugierig gemachten Lesern nicht einmal sagen „schade, den gibt’s nur noch antiquarisch“, denn jemand tat vor mir bereits diesen glücklichen Griff und das Buch erschien unter dem Titel Der Dicke und der Seltsame bei Fischer als Taschenbuch und Ebook.
Verlag: Molden
ISBN: 3-217-05139-4
Erstveröffentlichung: 1978
Agatha Christie – Villa Nachtigall
Als Krimiautorin kennen Agatha Christie eigentlich alle. Als Autorin von Kurzgeschichten zumindest viele. Um sieben dieser Kurzkrimis geht es in diesem Klassikerherbst. Sieben von über 150, die Christie im Lauf ihres Lebens verfasste. Die Kurzgeschichten erschienen regelmäßig in verschiedenen Anthologien. Manche davon gelangten in derselben Zusammenstellung ins Deutsche. Villa Nachtigall ist eine jener Anthologien, die zwischendurch mit einer willkürlichen Auswahl herausgegeben wurden.
Die sieben Geschichten passen also weder zeitlich noch personell alle zusammen; ihre Hauptpersonen sind Hercule Poirot und Mr. Harley Quinn sowie weitere Geschichten ohne prominente Ermittler. Die Poirot-Geschichte „Der Spiegel des Toten“ eröffnet das Buch, gefolgt von drei Geschichten um das Gespann Harley Quinn und Mr. Satterthwaite. Während Mr. Satterthwaite in der Gesellschaft umherschweift, trifft er manches Mal auf merkwürdige Szenerien. In der Regel taucht just dann Mr. Quinn auf und die beiden forcieren die Gelegenheit, bis sich die Teilnehmenden selbst verraten. Immer sehr unterhaltsam und zugleich stets etwas mysteriös, denn woher Quinn sein Wissen hat oder warum er immer zur rechten Zeit am rechten Ort ist, lässt Christie im Dunklen.
Unter den drei Erzählungen ohne prominente Besetzung ragt Villa Nachtigall hervor: Sie ist eine der erfolgreichsten Kurzgeschichten, stand Pate für ein Bühnenstück, mehrere Verfilmungen und Radiobearbeitungen.
Diogenes gab die Anthologie, die 1964 in der schwarzgelben Edition herauskam, 2001 nochmals in einer weißen Fassung mit dem heute typischen Diogenes-Look heraus, die nach wie vor erhältlich ist. Ein klares Ding für Enthusiasten.
Verlag: Diogenes
ISBN: 3-257-20825-1
Erstveröffentlichung: 1924 – 1937
Deutsche Erstveröffentlichung: 1964
Übersetzung: Günter Eichel, Peter Naujack
Wer in den bisherigen Ausgaben des Klassikerherbstes stöbern möchte, findet sie hier:
Klassikerherbst von 2015
Klassikerherbst von 2016
Klassikerherbst von 2017
Foto: Matthias Heil (unsplash)
2 Kommentare
huhu
Ein toller Beitrag, ich liebe alte Krimis! Les die einfach total gern, hab auch momentan wieder ein Agatha Christie Buch ausgegraben und auf dem Blog erwähnt. Ich werde heute mit dem Lesen anfangen, hab noch viele andere Sommerbücher rumstehen. Was hast du dir denn vorgenommen diesen Sommer zu lesen? Würde mich freuen, wenn du auch bei mir vorbeischaust. Lg Tinka
Hallo Tinka,
da hast du ja genau den richtigen Claim in deinem Blog: „Ein Literaturblog mit Vintage – Flair“ 🙂
Welche Krimis in diesem Jahr drankommen, weiß ich noch nicht. Ich lasse mich überraschen – eine Sommerplanung habe ich übrigens auch nicht. Mehr als die kommenden zwei oder drei Bücher weiß ich selten.
Liebe Grüße
Bettina