Ein liebgewonnene Bleisatz-Tradition werde ich natürlich weiterführen: Den Klassikerherbst. Alte Krimis laden wie jedes Jahr zur Entdeckungsreise ein, wenn die Abende wieder länger werden. Ein paar Stücke aus meiner Auswahl sind heute (fast) in Vergessenheit geraten, andere tauchen immer wieder mal in Neuauflagen auf.
Die Regeln sind willkürlich und wie immer: Keines der Bücher darf jünger sein als 40 Jahre; macht also ein Veröffentlichungsjahr von 1977 und älter. In diesem Jahr buddle ich in den Archiven. Und zwar nicht in verstaubten Regalen, sondern in meinen Rezensionen der vergangenen Jahre.
Die Titel
Starten wir mit Georges Simenon und einem der Non-Maigrets. Vielleicht ist der Name des Buchs deshalb auch nicht ganz so bekannt: Der Zug aus Venedig. Der Franzose Justin Calmar nutzt die Reisezeit, um sich mit dem Abteilnachbarn anzufreunden und diesem, nett, wie man nun mal ist, einen kleinen Gefallen zu tun. Der allerdings führt ihn geradewegs zu einer erschlagenen Frau und Calmar selbst von einer Notlage in die nächste. Eine eindrucksvolle Studie darüber, wie Menschen in Notlagen den Kopf verlieren können, weil sie vielem außerhalb ihrer Lebensrealität nicht gewachsen sind.
Non-Maigrets gibt es gut und gerne 120 Stück. Simenon nannte sie roman dur. Es ist nicht so, dass er mit 75 Maigrets wenig geschrieben hätte. Zusammen mit all den Erzählungen, den Reportagen, Drehbüchern oder Hörspielen machen dennoch die Texte ohne Maigret den Löwenanteil aus. Und trotzdem … Simenon ist und bleibt in unseren Köpfen wohl immer ein viel schreibender Krimiautor. Recht war ihm das zu Lebzeiten nicht, denn er wäre gerne mehr als „echter“ Schriftsteller wahrgenommen worden.
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Dann wäre da noch ein absoluter Zufallsfund: Paul Rosenhayn. Rosenhayn war ein deutscher Schriftsteller (1877 – 1929), von dem ich bis zu dieser Detektivgeschichte noch nie etwas gehört hatte. Er arbeitete als Journalist für britische und deutsche Zeitungen, schrieb zahlreiche Drehbücher und kannte Indien, Europa und auch Amerika von vielen Reisen. Er begann, während des Ersten Weltkriegs Krimis zu schreiben und durch seine Amerika-Aufenthalte bekam er wohl die Idee für seine bekannteste Figur, den amerikanischen Detektiv Joe Jenkins. Klar, auch seine Drehbücher drehten sich meist um Detektive. Und ich stellte fest, dass Jenkins-Geschichten bis etwa 1920 auch verfilmt wurden.
Seit meiner Lektüre aber sind einige Geschichten von ihm auch anderen Lesern aufgefallen und man bekommt einige davon als Taschenbuch oder „richtiges“ Ebook (die pdf-Zeiten sind vorbei).
Der Fall Pompejus Pym ist eine kleine Zeitreise in die damalige Klassengesellschaft der USA. Der unvoreingenommene Jenkins verhilft einem Schwarzen zu seinem Recht, dem ansonsten kein Beteiligter schlicht wegen der Hautfarbe Glauben schenken mag.
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Mit dazu nehme ich Patricia Highsmith. Sie gilt als Autorin der „Whydunit“, also Krimis, in denen es weniger um die Tätersuche als deren Motivanalyse geht. Tom Ripley dürfte die bekannteste Figur ihrer literarischen Innenschau sein. Zum Zeitpunkt des Erscheinens war Ripley ganz sicher keine typische Romanfigur, denn die Mehrzahl der Leser ertappte sich dabei, wie sie auf das Entkommen des Mörders hoffte. Nach dem großen Erfolg des Buchs und ersten Verfilmung folgten bis 1991 noch vier weitere Ripley-Romane.
Ich habe übrigens dazu gelernt, dass Highsmith ihre letzten Lebensjahre im schweizerischen Tegna verbrachte. Ihr kompletter Nachlass liegt in Bern im Schweizerischen Literaturarchiv. Und Bern muss auf eine ganze Menge Material aufpassen: 250 unveröffentlichte Werke zum Beispiel, 8000 Seiten Tage- und Notizbücher, Handwerkerrechnungen aus Tegna und 50.000 Briefe. Veröffentlicht zu Lebzeiten wurden aber nur etwas mehr als 20 Bücher.
Interessant ist sicher auch die Highsmith-Biografie von Joan Schenkar. Sie eröffnet das Buch mit den Worten: „Sie war nicht nett.“
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Mit im Boot außerdem Dorothy L. Sayers. Früher oder später muss sie bei einer Klassikerretrospektive ja auftauchen! Dabei war das zum Zeitpunkt ihres Todes gar nicht so sicher. Klar, sie war eine jener British Crime Ladies, die gerade in den 1920er und 1930er Jahren die klassischen Detektivgeschichten prägten. Aber zwanzig Jahre später erinnerte sich kaum jemand an die Highlights von früher.
Wiederentdeckt wurde sie erst in den 1960ern und wirklich bekannt wurden die Bücher, als Lord Peter Wimsey für das Fernsehen adaptiert wurde. Es gibt auch einen zweiten Detektiv aus ihrer Feder, an den ich (auch mich selbst) erinnern möchte: Montague Egg, der Spirituosen-Vertreter.
Einen Krimi schrieb sie gemeinsam mit Robert Eustace, der mir die perfekte Überleitung zum nächsten Autoren liefert: Die Akte Harrison. Das Buch basiert auf einem echten Mordfall und ist als Briefroman geschrieben. Diese Darstellungsform wählte sie nicht nur, weil es ihr Perspektivwechsel erlaubte. Sondern auch, weil es eine Hommage an den Schriftsteller war, an dessen Biografie sie zu dieser Zeit arbeitete: Wilkie Collins (sie wurde mit der Arbeit zeitlebens nur leider nicht fertig).
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Schaut man durch Texte zur Geschichte des Krimis, taucht ein Name garantiert auf, nämlich dieser gerade erwähnte Wilkie Collins. Ihm wird immer gerne bescheinigt, mit seinen Romanen zu den ersten Krimis im heutigen Sinn beigetragen zu haben, wenn er nicht gar als Begründer des Genres bezeichnet wird. Seinen Roman „Gesetz und Frau“ rechnet man übrigens als den ersten Kriminalroman mit einer Detektivin.
Angefangen hatte Collins als Anwalt, aber nachdem er die Biografie seines Vaters geschrieben hatte, blieb er beim Schreiben. Zwei Dutzend Romane und ein paar Dutzend Erzählungen machten ihn zu einem der beliebtesten Autoren. Bis man Collins wiederentdeckte, verging allerdings weitaus mehr Zeit als bei Sayers.
Gelesen habe ich The Woman in white. Dieses Buch ist so alt, dass es von kostenlos bis hin zu Taschenbuch und von schnell gescannt bis gut überarbeitet so ziemlich alle Varianten gibt. Der Roman lohnt sich und guckt lieber nach einer vernünftigen Ausgabe, die beim Lesen Spaß macht.
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Foto: Matthias Heil / unsplash