Noch nie in meinem Leben bin ich an einem Youtube-Kanal so kleben geblieben wie an diesem, dem Mailab von Mai Thi Nguyen-Kim. Normalerweise kriege ich auf Youtube nach fünf Minuten die Krise, weil ich naturgemäß keinen Text serviert bekomme. Bei Mailab lief das Kennenlernen völlig anders ab. Nach dem ersten Video das zweite, beim dritten wegen des Themas die Kinder dazu holen und die Woche bis zum nächsten ist viel zu lang. Aber das kann ich ja mit einer Wiederholung überbrücken. Die Filme sind interessant, teils recht spontan zu aktuellen Themen gestaltet, immer bestens mit Fakten unterfüttert, kreativ gestaltet, gut geschnitten … und so weiter. So weit der Youtube-Kanal. Wie sieht das mit den beliebten Mai Thi-Keksen und dem Tee aus, wenn aus der Idee zum Kanal ein Buch wird?
Ein Tag mit Mai Thi
Es empfiehlt sich, eine ganze Kanne Tee zu kochen! Mit dem Ansatz im Buch gelingt es nämlich ebenfalls, jemanden so richtig kleben bleiben zu lassen. Mai Thi erzählt von der Chemie in unserem Alltag: Das reicht vom Fluor in der Zahnpasta über die Wirkung von Coffein und vom Gorillaglas als Handydisplay über Konservierungsstoffe bis hin zum Wert von „Sauerstoffwasser“. Die Zusammenstellung an sich ist recht willkürlich. Aber sie folgt grob einem Ablauf, nämlich einem Tag mit Mai Thi vom Aufstehen bis zum Abendessen. Dieser Erzählkniff bringt die einzelnen Bausteine zusammen.
Parallel dazu nutzt Mai Thi die einzelnen Themen dazu, ein bisschen über die Grundlagen der Chemie aufzuklären. Eigentlich ist so einiges davon Schulwissen, aber da geht über die Jahre auch viel verloren, nachdem man sein letztes Zeugnis in der Hand hatte. Keine Sorge, es geht auch noch einiges darüber hinaus; die Wiederholung solcher Basics hilft einfach, alles Nachkommende besser zu verstehen.
„Ich hätte gerne was ohne Chemie!“
Will man ChemikerInnen auf die Palme bringen, muss man nur mal so einen Spruch loslassen: „Ich hätte gerne dieses Produkt, nur ohne Chemie.“ Würde man zum Beispiel Seife „ohne Chemie“ verlangen, müsste man den Laden streng genommen mit leeren Händen verlassen. Ohne geht’s tatsächlich nicht und Mai Thi klärt auf, warum das so ist. Auch hinter allen Prozessen, die von den meisten Menschen als „natürlich“ eingestuft werden, stecken chemische Prozesse, die ganz automatisch und oft genug in einer ausgeklügelten Abfolge ablaufen.
Mein ganz persönliches Highlight ist der Ausflug in die Sprache der Wissenschaftler. Das Motto: „Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht?“ Ein englisches Paper als Muster findet ihr zum Beispiel im Beitrag zur Stavanger-Deklaration, da habe ich im Abschnitt „Es geht ums Lesen“ eine solches Paper verlinkt. Mai Thi nimmt als Beispiel ihren Arbeitskollegen Paul und das Risotto. Wenn Paul nicht alles aufisst, dann brauchen wir etwa drei Sätze oder Ideen, warum Risotto auf seinem Teller übrig blieb. Aber was macht der Wissenschaftler? Der kann sich eine Seite lang Gedanken darüber machen, Annahmen treffen, Rahmenbedingungen festlegen und die Situation am Ende auch nicht final beurteilen. Er hat allerdings seine Grundlagen ziemlich ausführlich beisammen.
Es gibt keine einfachen Antworten
So witzig das ist, steckt doch ein bedeutender Kern darin: Einfache Antworten gibt es nicht, nicht nur in den Wissenschaften. Einfache Antworten sind zwar wahnsinnig beliebt, aber letztlich bleibt eine Menge auf der Strecke, wenn man es sich zu einfach macht. An Wissen, an Hintergrundinfos, an Rahmenbedingungen und so weiter. Deshalb ist guter Wissenschaftsjournalismus so wichtig. So, wie es zum Beispiel dieses Buch schafft (und auch ihr zweites Buch Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit).
Mai Thi Nguyen-Kim ist eine jener WissenschaftlerInnen, die mit ihrer Art der Vermittlung nicht nur ausgezeichnet erklären, sondern damit auch noch wahnsinnig viele Leute erreichen. Und sie ist jemand, der sein Publikum für klug und interessiert genug hält, es selbst mit ausführlicheren Erläuterungen aufzunehmen. Eben gerade deshalb: Weil es einfache Antworten nicht gibt.
Bibliografische Angaben
Verlag: Droemer Knaur
ISBN: 978-3-426-27767-6
Erstveröffentlichung: 2019
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2 Kommentare
Ich bin noch an dem Buch dran und bereits jetzt sehr begeistert. Ich kann ihre Stimme förmlich hören, als ob sie mir das Buch vorliest 😀
Kann also deine Begeisterung absolut nachvollziehen auch bezüglich YT. Gucke dort auch selten bewusst Beiträge, aber bei ihr … da bleibt man gerne hängen 🙂
Das geht mir ähnlich … Kopfkino 😆
By the way: Das Hörbuch hat sie tatsächlich selbst eingesprochen. Da kenne ich aber nur einen Ausschnitt. In diesem Fall würde ich mir wegen der erklärenden Zeichnungen im Buch kein Hörbuch holen.