Das Paar Reik und Max hat Freunde in ihr Wochenendhaus am See eingeladen. Mit dabei sind Tonio, mit dem die beiden eine lange und tiefe Freundschaft verbindet, und dessen Tochter Pega. Pega ist gerade zwanzig geworden und betrachtet das Männertrio praktisch komplett als ihre Väter. Max und Reik waren immer involviert, ins Fahrradfahren lernen, Baden im See, beim Pauken für die Schule oder beim Trösten. Es sieht ganz so aus, als könne man auch an diesem winterlichen Wochenende die Seele baumeln lassen. Der Archäologe Max, der Künstler Reik, ein sich in ihren Unterschieden gut ergänzenden Paar seit zwanzig Jahren. Der eine merkt, wenn das Teeservice auf der Kredenz auch nur eine Nuance verschoben ist, der andere wirbelt in dem, was man als „kreatives Chaos“ verschleiert.
Der Roman beginnt aus Max‘ Perspektive. Mit seiner Stimme erlebe ich seine Beziehung zu Reik und plötzlich bekommt die heile Welt Risse. Es gibt viele schöne Rückblicke. Aber Max zweifelt, je länger das Kapitel wird, immer mehr an seiner Beziehung zu Reik.
An manchen Tagen kommt es mir vor, als würde er mich irgendwann völlig aussaugen, bis ich keinerlei Gefühle und keinerlei Anerkennung und schon gar keinen Respekt für mich selber mehr übrig habe. … Und das macht mich wütend. Mich machen die Lampenaugen wütend und die Selbstverständlichkeit, mit der er mich jetzt mit nach draußen in die Kälte zieht.
Der Reihe nach werden auch Reik, Tonio und Pega die letzten zwanzig Jahre rekapitulieren und stets formt sich ein neuer Blick auf das Quartett im Haus. Ihre Selbstreflektionen sind ungeschönt, ehrlich, berührend und sie gewähren einen intensiven Einblick in ihr Erleben. Es ist nicht alles glatt gelaufen, in den letzten Jahren, kleine Verletzungen sind nicht völlig vergessen. Die Beziehung der Vier untereinander ist offenbar so eng, dass es Pega trotz aller Liebe zu viel wird:
„Was willst du?“
„Euch vergessen wär ein Anfang. Euch alle drei.“
Zerbrochenem neues Leben einhauchen
Klappentexte finde ich mitunter tückisch. Der Text zu diesem Buch geht praktisch nur auf die Technik des Kintsugi ein und gerade dadurch gewinnt er mich für sich. Mit einer technischen Erklärung ein Buch perfekt zusammen fassen geht so: „Kintsugi ist das japanische Kunsthandwerk, zerbrochenes Porzellan mit Gold zu kitten. Diese Tradition lehrt, dass Schönheit nicht in der Perfektion zu finden ist, sondern im guten Umgang mit den Brüchen und Versehrtheiten.„
Kintsugi ist ein unglaublich ruhiges Buch und erstaunlicherweise ist es das zweite in kurzer Folge, das für mich erst nach voller Länge einen Sinn ergab. Und an dem ich überhaupt erst richtig Interesse bekam, als mir klar wurde, dass ich keine klassische Handlung erzählt bekomme (die gibt es nur rudimentär), sondern dass sich das Buch aus den Gefühlen und Erzählungen der Figuren speist. Und aus dem Schicksal einer Teeschale, ohne die es ein solches Buch nicht geben kann. Max, Reik, Tonio und Pega erleben an diesem Wochenende einen wichtigen Umbruch, nach dem sie jeder ihr eigenes Kintsugi gestalten müssen.
So schön das Buch zusammengestellt ist, mit eben jeder Teeschale, Überschriften in Anlehnung an japanische Philosophien, der Innenschau ihrer Figuren … so richtig wollte der Funke trotzdem nicht zünden. Ganz unpassend ist das nicht: Schönheit ist in Japan nicht immer offenkundig und vielleicht ist hier ein persönliches Wabi Sabi für mich versteckt.
Bibliografische Daten
Verlag: S. Fischer
ISBN: 978-3-10-397459-1
Erstveröffentlichung: 2019
Bestellen bei genialokal.de* / buchhaus.ch* / osiander.de* / orellfuessli.ch* / medimops.de* / amazon.de* (*Affiliate-Links)