Shichiro Fukazawa – Die Narayama-Lieder

von Bettina Schnerr
3 Minuten Lesezeit
Header: Die Narayama-Lieder

Irgendwo im japanischen Hochland. Raue Lebensbedingungen, knappe Ressourcen. Die Bewohner eines kleinen Dorfes in der Nähe des Bergs Narayama sind geprägt von diesen Lebensbedingungen. Sparsamkeit und Verzicht prägen jeden Tag. Wer auch nur kleinsten Missfallen erregt, wird mit Spottversen zurechtgewiesen, die teils das ganze Dorf mitsingt, eben die Narayama-Lieder. Die verbitterte Sparsamkeit sorgt obendrein für drakonische Strafen, wenn beispielsweise jemand beim Diebstahl erwischt wird.

Im Dorf hat Armut noch eine weitere Tradition hervorgerufen. Alte Menschen werden nach Erreichen ihres siebzigsten Geburtstags zum Beginn des Schneefalls auf den Berg gebracht. Dort sollen sie sterben, damit den jüngeren im harten Winter mehr zum Überleben übrig bleibt. Wann und wie der Brauch zustande kam, weiß niemand. Doch da der Brauch nun mal da ist, wird ihn niemand hinterfragen. Genauso wenig wie die anderen boshaften bis bitteren Gepfogenheiten.

Die letzten Tage vor dem Marsch

Im kommenden Winter wird Orin auf den Berg gehen, begleitet von ihrem Sohn, und die Erzählung begleitet ihre letzten Wochen im Dorf. Orin bereitet ihre Wanderung auf den Berg gewissenhaft vor und akzeptiert den Brauch, doch will sie zuvor für ihren verwitweten Sohn noch eine zweite Frau finden. Während dieser Wochen zeigt die Erzählung aber auch, dass nicht jeder freiwillig sterben möchte. Die einzelnen Familien -sowohl die Alten als auch deren Angehörige- gehen ganz unterschiedlich mit dem bevorstehenden Wintereinbruch um.

Erstaunlich wirkt es schon, dass sich die Menschen freiwillig solch erbarmungslosen Bräuchen unterwerfen, selbst, wenn aus der Not geboren. Doch eine Runde Herr der Fliegen erinnert daran, dass Menschen nicht automatisch gut zueinander sind (was übigens eine umso erschreckendere Erkenntnis ist, wenn man William Golding schon in der Schule zu lesen bekommt). Dabei ist die Erzählung, die durch Thomas Eggenberg erstmals direkt aus dem Japanischen übertragen wurde, eine recht lakonische, ruhig erzählte Geschichte. Umso mehr wirken die Bilder, wenn sich die Dorfgemeinschaft zum Beispiel über eine Familie hermacht, die anderen offensichtlich eine Menge Kartoffeln geklaut hat.

Durchdachte Neufassung

Shichiro Fukazawa - Die Narayama-Lieder, übersetzt von Thomas Eggenberger, erschienen im Unionsverlag

Zur direkten Übersetzung hinzu kommt eine wohlüberlegte Gestaltung. Das Titelbild zeigt den passenden Holzschnitt ‚Ubasute no tsuki‘ von Yoshitoshi aus der Serie ‚One Hundred Aspects of the Moon‘. Dazu stellt der Verlag ein aktuelles Nachwort des Japanologen Eduard Klopfenstein, der die Struktur der Erzählung näher erklärt (sie folgt einem bestimmten shintoistischen Rhythmus) und auch den Autor näher vorstellt. Thomas Eggenberg ist mit einem Text über das Übersetzen aus dem Japanischen vertreten.

Für mich persönlich fügt sich der Text überraschend gut in meine „Lesebiografie“: Vor einigen Jahren hatte ich zufällig Dendera in der Hand, der beim Verlag Haikasoru als Fantasy firmiert. Dieser Roman greift die Legende des Ubasute auf, setzt seinen Schwerpunkt aber auf die Zeit nach dem Aufstieg auf den Berg und übernimmt dabei noch eine sehr außergewöhnliche Perspektive. Nämlich die der alten Frauen, die zum Sterben hochgebracht werden. Mit dem Original von Shichiro Fukuzawa finde ich nun jenen Text, der ‚Dendera‘ Futter gab. Auf gewisse Weise fügen sich die Bilder der beiden Texte gut ineinander.

Die Ubasute am schneebedeckten Berg gehört ins Reich der Legenden. Doch schlägt man ein bisschen im Internet nach, landet man schnell bei „granny dumping“. Ein Phänomen, das seinen Namen in den USA bekam, wo ältere (und vor allem pflegebedürftige) Angehörige zum Beispiel vor Spitälern oder Altersheimen abgesetzt und zurückgelassen werden. Wie auch immer der Umgang mit Senioren in Japan ausgesehen hatte, als Shichiro Fukazawa seine Narayama-Lieder schrieb, unwissentlich hat er einen Dauerbrenner über das würdevolle Altern und den Umgang mit dem Tod geschrieben (und einem Artikel der britischen inews zufolge gibt es granny dumping inzwischen auch in Japan, nur heißt es dort eben … Ubasute).

Bibliografische Angaben

Verlag: Unionsverlag
ISBN: 978-3-293-00574-7
Originaltitel: Narayama bushi kō / 楢山節考
Erstveröffentlichung: 1956
Deutsche Erstveröffentlichung: 1964
Übersetzung: Thomas Eggenberg

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