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Igort – Berichte aus Japan: Moga, Mobo, Monster

Igort – Berichte aus Japan: Moga, Mobo, Monster

Hinter dem Kürzel Igort steckt der Italiener Igor Tuveri. Der Comic-Zeichner durfte als einer der ersten europäischen Zeichner für japanische Verlage arbeiten. Daraus entstand eine langjährige Beziehung zum Land, die er in der Serie „Berichte aus Japan“ erzählt. Die ersten beiden Bände, „Eine Reise ins Reich der Zeichen“ und „Ein Zeichner auf Wanderschaft“, habe ich in einer Folge von „Japan in Farbe“ bereis vorgestellt. Inzwischen gibt es einen dritten Band mit dem Titel „Moga, Mobo, Monster“.

Waren die beiden vorigen Bände schon ein Tipp für Menschen mit einem vertieften Interesse an Japan und vor allem seiner Manga-Kultur und Kunst, gilt das für den dritten Band noch sehr viel mehr. Igort mischt zwar wieder eigene Begegnungen in die Seiten und zeichnet sich zum Beispiel als Club-Besucher, wo er von einem Kollegen erstmals von der Ero-Guro-Bewegung aus den 1920er Jahren hört. Aber dieser Band konzentriert sich hauptsächlich auf die Künstler, die diese Bewegung in Gang brachten und jene, die in ihren Fußstapfen heute eine Nischenkultur pflegen.

Von den Kibyoshi zum „Modanizumu“

Der Einblick beginnt mit dem Ende der Edo-Zeit im späten 19. Jahrhundert. Mit diesem kommt der „Modanizumu“, der Modernismus, dessen Ideen vor allem durch Europa inspiriert waren. Die Strömungen entwickeln „modern girls“ (japanisch modan garu) und „modern boys“ — abgekürzt jene Moga und Mobo aus dem Titel.

Die Literatur und die Künste erneuern sich und treffen auf die je zehnseitigen Bilderbücher namens Kibyoshi, eine Art Vorläufer der japanischen Erwachsenencomics, die schon in der Edo-Zeit populär waren. Und auf Shunga, erotische Darstellungen in der Ukiyoe-Kunst. Und so fügt sich eine Ero-Guro-Bewegung zusammen, von der Igort in eben jenem Club gehört hat. Eine Bewegung, die mit traditionellen Konventionen und Darstellungen bricht.

Ero-Guro kombiniert bizarre und erotische Elemente. In der Literatur gehört zum Beispiel Junichiro Tanizaki dazu (und mit diesem Wissen ergibt „Devils in Daylight“ rückblickend einen anderen Sinn). In Zeichnungen dominieren grausame Praktiken, es fließt viel Blut und wenn es harmlos daherkommt, spielen meist Fesselungen eine große Rolle.

Knoten- und Fesselmuster sind in Japan ohenhin eine Kunstform, da es lange keine Gefängnisse gab und Gefangene mit Seilen aus Jute oder Hanf gesichert werden mussten — und das bei jedem Gefangenen ästhetisch hochwertig, denn die Technik formte Ruf und Ansehen eines Samurai. Knoten sind eine Kulturtechnik, die sich überall erhalten hat. Vom Geschenkband bis zum Tsuma-Seil beim Sumoringer.

Geschichtsbuch für Fans einer Nische

Igort liefert praktisch ein illustriertes Geschichtsbuch ab. Die erste Hälfte erzählt die frühe Geschichte der Ero-Guro, die zweite von der heutigen Nischenkunst, die sich daraus entwickelt hat. In kleinen Abschnitten stellt Igort einzelne Künstler vor. Von den modernen Vertretern hat er im Lauf der Zeit einige getroffen und erzählt von ihren Inspirationen und Prägungen. Wie schon in den vorigen Bänden gestaltet er Nachahmungen einiger Werke, um die jeweiligen Stile einzufangen.

Dabei spricht er auch über den heute sehr komplizierten Umgang Japans mit Erotik. Während die historischen Ukiyoe noch sehr explizite Darstellungen zeigen, wäre das heute nicht mehr möglich.

Es klingt fast wie Ironie. Die stilisierten Shunga-Bilder (japanische erotische Drucke), die Künstler wie Utamaro, Toyokuni III, Hokusai und Hiroshige vor Jahrhunderten geschaffen hatten, werden nun in Japan zensiert, während sie in Museen auf der ganzen Welt gezeigt werden; und in westlichen Bildbänden ganz ohne schwarze Stempel zu sehen sind.

Ausschnitt aus: "Igort - Berichte aus Japan: Moga, Mobo, Monster." Die Szene zeigt die Zollzensur erotischer Ero-Guro-Hefte, die zwar aus Japan ausgeführt, nicht aber wieder eingeführt werden dürfen.
Die Zollbestimmungen sind noch strenger als die Regeln der Pressefreiheit und sorgen für paradoxe Zensurstandards. Foto aus „Berichte aus Japan 3“.

Eine Episode erzählt vom Experiment einiger japanischer Journalisten zur merkwürdigen Zensurpolitik. Sie hatten sich vor einigen Jahren extra einschlägige Magazine gekauft und mit ins Ausland genommen. Bei ihrer Rückkehr hatten sie die Wahl zwischen dem Ausreißen einzelner Seiten oder dem Ausradieren kritischer Bildstellen mit Sandpapier. Obwohl die Hefte ein ureigenes japanisches Produkt waren, das die Pressezensur überstanden hatte, unterlagen die Motive gleichzeitig sehr viel strengeren Importbeschränkungen.

Kurze Einblicke zu den Kleinverlagen, die Ero-Guro verlegen sowie zum zugehörigen Filmmarkt ergänzen das Buch.

Igort etabliert seine Serie als Lesestoff für ein sehr spezifisches Publikum, das sich für einen engen Bereich der japanischen Kunst- und Literaturgeschichte interessiert. Der Detailreichtum zeigt, dass sich Igort sehr intensiv mit den Themen auseinandergesetzt hat und das kenntnis- wie bildreich weitergibt. Mit dieser Einschränkung: Wo Ero-Guro schon ein Nischenmarkt ist, ist es ein Comic darüber ebensosehr.

Sollte es einen Band 4 der Serie geben, würde ich ihn wohl nicht mehr aus der Bibliothek mitnehmen und ihn anderen überlassen.

Bibliografische Angaben

Verlag: Reprodukt
ISBN 978-3-95640-282-1
Originaltitel: Quaderni Giapponesi. Moga, Mobo, Mostri.
Erstveröffentlichung: 2021
Deutsche Erstveröffentlichung: 2021
Übersetzung: Lukas Elstermann, Benedetta Picarone Fabris
Handlettering: Michael Hau

3 comments

  1. Hm … im Gegensatz zu Dir bin ich nun nicht so der Japan-Fan. Ich habe mich aber vor 5 oder 10 Jahren kurz zwei Mal mit Tanizaki Jun’ichirō (wie ich seinen Namen damals, ich glaube aus der englischen Wikiepdia, kopiert habe) auseinandergesetzt, einmal davon auch am Rande mit dem japanischen Modernismus der 1920er. Auf die japanische Kunst will ich mich aktuell, ehrlich gesagt. nicht einlassen. Bringt denn dieses Buch auch für Tanizaki Jun’ichirō und den Modernismus in der Literatur etwas? Die Beschreibung auf der Homepage meiner Buchhändlerin lässt mich zweifeln.

    1. Bettina Schnerr says:

      Kurze Antwort, Paul: Nein, das glaube ich nicht.
      Das Buch dreht sich sehr spezifisch um die Ero-Guro, ihre Strömungen und was daraus entstanden ist. Wenn du dich ohnehin schon einmal mit dem Modernismus in Japan befasst hattest, glaube ich nicht, dass dieses Buch mehr zu bieten hätte. Dass der Modernismus vom Kontakt mit den USA zustande kam, wird sicher auch in den anderen Büchern Thema gewesen sein oder dass sich eben Mode und Kunst neu ausprobierten.
      Im Zweifelsfall: Es ist in der Kantonsbibliothek Frauenfeld verfügbar.

      Für das erwähnte Buch von Tanizaki verstehe ich jetzt zwar einen Hintergrund mehr, doch dadurch wird es für mich rückblickend nicht unbedingt „besser“. Ich verstehe lediglich besser, warum die Geschichte damals so gut funktioniert hatte.

      1. Danke für die Antwort. Falls ich wider Erwarten mal Zeit finde für die japanische Kunst, kann ich mir das anschauen.
        PS. Vergessen: Danke für die Super-Rezension!

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