Was wäre das Lesejahr 2024 ohne den Jahresrückblick 2024? Kein vollständiges Lesejahr. Der Blick zurück ist insofern immer spannend, weil ich bei Büchern manchmal das Zeitgefühl verliere und definitiv nicht jedes Buch im Blick behalte, mich an Titel oder Autor:in korrekt erinnere oder das Buch in einem falschen Jahr verorte. Manchmal ist der Blick zurück eine schöne Erinnerung, so, wie man sie manchmal an einen Urlaub hat. Manchmal flammt auch eine gewisse Wut auf. Sei es, weil ich mich über ein Buch geärgert habe, sei es, weil die Story realen Ärger abgebildet hat.
Welches war das Buch in diesem Jahr, von dem ich mir wenig versprochen habe, das mich dann aber positiv überrascht hat?
„Wilde Tiere“ von Markus Bundi gehört ebenso dazu wie „Die Party“ von Ulrike Haidacher. Beides Bücher aus kleinen, unabhängigen Verlagen (nämlich Septime und Leykam). Und beides dünne Bücher – also Autoren und Autorinnen, die auf kleinem Raum große Geschichten erzählen können.
Markus Bundi hat eine auf den ersten Blick unscheibare Geschichte über einen Vorfall im Museum geschrieben. Vier Personen machen sich anlässlich des Polizeibesuchs im Gebäude Gedanken über ihre Vergangenheit, ihre Beziehungen, ihre Leben. Und Bundis Talent ist es, in diesen scheinbaren Alltäglichkeiten viel engere Verknüpfungen zu weben als auf den ersten Blick erkennbar.
Ulrike Haidacher hat einen klasse Wutausbruch geschrieben. Offensichtlicher im Stil als Bundi, aber nicht minder wirkungsvoll hackt sie auf einer Gesellschaft herum, die sich vordergründig für großartig und feministisch hält. Eine Gesellschaft, die sich bei genauerem Hinsehen aber als ebenso kleinkariert entpuppt wie die Leute, über die sie sich aufregen.
Welches war das Buch in diesem Jahr, von dem ich mir viel versprochen habe, das mich dann aber negativ überrascht hat?
Wieder sind es zwei in der engeren Auswahl: Fangen wir an mit „Zazie in der Metro“ von Raymond Queneau. Von diesem kannte ich zunächst nur Ausschnitte der damaligen Verfilmung, die sehr unterhaltsam und lustig zu sein scheint. Dann kann das Buch doch gar nicht so übel sein? Aber so wie es aussieht, ist es dem Drehbuchschreiber gelungen, aus der Geschichte mehr Charme herauszuholen als Queneau aufgeschrieben hat. Alles, was mir von Zazie bleibt, ist ein chaotischer Roman, dessen Sinn und Zweck mir verborgen blieb.
„Agathas Alibi“ von Andrew Wilson ist mein zweiter Kandidat. Das lag im Wesentlichen daran, dass Wilson eine reichlich abwegige Story erfunden hat, warum Agatha Christie seinerzeit mehrere Tage wie vom Erdboden verschluckt war. Und sie obendrein als verhuschte Frau darzustellen, kann ich mir bei einer früheren, tatkräftigen Krankenschwester in den Kriegslazaretten beim besten Willen nicht vorstellen.
Welches war eure persönliche Autoren-Neuentdeckung in diesem Jahr und warum?
Kikuko Tsumura. Ich habe „There’s no such thing as an easy job“ von ihr kennengelernt, ein Buch, das es nicht auf Deutsch gibt. Ich tippe ja darauf, dass hier noch eine Übersetzung folgen wird. Tsumura schreibt mit feiner Ironie über den japanischen Arbeitsmarkt und die Jobsuche einer jungen Frau. Sie befasst sich mit dem Arbeitsmarkt in unterschiedlichen Branchen und diskutiert Arbeitsbedingungen, Engagement und Erfüllung. Können alle Eckpunkte gut austariert werden und wenn ja, wie?
Ein großartig geschriebenes Buch und eine Autorin, die mindestens fünf japanische Literaturpreise abgeräumt hat. Also wenn das kein Empfehlungsschreiben ist, weiß ich auch nicht weiter.
Welches Buch wollt ihr unbedingt 2025 lesen und warum?
Bei mir kommen zwei Bücher in diese Auswahl und das aus zwei unterschiedlichen Gründen. Das eine möchte ich endlich fertig lesen, das andere steht einfach schon zu lange ungelesen im Schrank.
Unbeendet ist „Die Klimaschmutz-Lobby“ von Susanne Götze und Annika Joeres. Das Buch ist unglaublich gut recherchiert und macht unglaublich wütend. Die Autorinnen beweisen, wie sehr Klimaschutz boykottiert wird und zählen detailliert immer wieder die Netzwerke dafür auf, Namen, Termine, Treffen, Inhalte. Das ist so viel Information, dass ich immer wieder Lesepausen brauchte und eine davon ziemlich lang. Der Overload an Daten war zum damaligen Zeitpunkt überwältigend – aber die Wut über die Boykotteure hat sich in der Lesepause ganz sicher nicht beruhigt.
Ungelesen ist „Lost Japan“ von Alex Kerr. Auf Kerr stieß ich durch meine Begeisterung für Machiya (traditionelle zweistöckige Stadthäuser, die als Geschäfts- und Wohnhäuser gleichzeitig dienen). Taucht man in dieses rabbit hole, stößt man ziemlich schnell auf Menschen, die leerstehende alte Häuser renovieren. Einer der ersten, die das überhaupt in Angriff nahmen, ist eben Alex Kerr – ein US-amerikanischer Autor, der als Jugendlicher in Yokohama lebte und wenige Jahre später dauerhaft ins Land zog. In „Lost Japan“ sammelt er zahlreiche Eindrücke aus mehr als 30 Jahren Leben in Japan. Das Buch gewann einen japanischen Literaturpreis (da es zuerst auf Japanisch veröffentlicht wurde) und Kerr war der erste nicht-japanische Gewinner.
Welches war euer Lieblings-Cover in diesem Jahr und warum?
Üppig und flirrend sind gleich zwei meiner Lieblingscover: Hiroko Oyamadas „Das Loch“ und Ulrike Haidachers „Die Party„. Beide Bücher erfüllen für mich zugleich auch inhaltlich das Kriterium einer „irren“ Realität (und das Foto, das Oyamadas Cover zugrunde liegt, erfüllt ohnehin alle Kriterien für gerahmtes Poster an der Wand). Apropos irre Realität: Die haben wir auch bei Jens Beckerts „Verkaufte Zukunft„. Trotz apokaylptischer Bilder von Klimawandel und Umweltschäden sitzen zuviele Menschen tatenlos herum und tun so, als gehe sie es nichts an. Cover und Inhalt gehen hier perfekt Hand in Hand.
Sakyo Komatsus „Japan Sinks“ gefällt mir, weil das Titelbild mit der japanischen Sonne und der einzigartigen Silhouette des Fuji spielt – alles liegt unter Wasser. Ganz so, wie das (fast ganze) Land im Roman durch unerwartet hefitge Plattentektonik enden wird. Bei „Qualityland“ von Marc-Uwe Kling habe ich ein paar Tage gebraucht, um das Equalityland zu entdecken. Auch das hat mit dem Buch selbst zu tun und die Art, wie der Bezug hier auf ebenso simple wie geniale Weise untergebracht wird, bewundere ich immer noch. Selbst die codierten Lippen nehmen Bezug. Zwei ruinöse Eingriffe, die der Verlag ums Verrecken nicht bleiben lassen konnte, sind nur leider der Button mit dem Hinweis auf die Känguruh-Trilogie (wenigstens haben sie hier dasselbe Farbschema benutzt) und der unsägliche Aufkleber „Spiegel-Bestseller“. Daher zum Abschluss nochmals etwas versöhnlicheres, nämlich das Cover von Kikuo Tsumura und „There’s no such thing as an easy job„. Schlicht, aber einfach cool, wie hier ganz selbstverständlich das Bild der jungen Frau zum Leben erweckt wird, die mit ihrer Jobsuche hadert.
Bestellen bei genialokal.de* / buchhaus.ch* / osiander.de* / orellfuessli.ch* (*Affiliate-Links)
Titelbild: Jamie Fenn, unsplash