Welche Eindrücke prägen euer Lesejahr? Bei mir war es ein überraschend Japan-fokussiertes Jahr. Der Verdacht kam morgens beim Kaffee auf und so zog ich mit Strichliste durch den Blog und tatsächlich lagen Japantitel mit allen anderen Nationen nahezu gleichauf. Daher das Titelfoto von Silvesterfeuerwerk in Hakodate (rechts unten stehen auch ein paar Zuschauer; im Sommer wäre es zu einem Matsuri dort rappelvoll inklusive zahlloser Imbissstände).
Meinem Japan-Schwerpunkt tut das freilich gut — wer mit Land und Literatur nicht so viel anfangen kann, ist mit anderen Titeln besser bedient. Doch keine Sorge, von denen gibt es im Jahresrückblick 2022 ausreichend.
Die Fragen hole ich mir aus vergangenen Rückblicken. Sie haben sich nicht nur etabliert, sondern sind nach wie vor ganz hervorragend, um ein Lesejahr aus unterschiedlichen Perspektiven Revue passieren zu lassen.
Welches war das Buch in diesem Jahr, von dem ich mir wenig versprochen habe, das mich dann aber positiv überrascht hat?
Nicht allzuviel versprochen hatte ich mir in der Tat von einem der Bücher. Nämlich Wlada Kolosowa mit „Der Hausmann„. Das kam so poppig auf den Tisch, dass es zwar gut aussah und gut in der Hand lag. Aber die Sorge blieb, dass viel Theaterschminke drüber gekippt worden war, damit es möglichst hip und kaufbar aussah und vielleicht sogar vom „näher hingucken“ ablenken sollte. Was durchaus ein Sinn von Theaterschminke ist. Kolosowa trennt mit den unterschiedlichen Erzählstilen (Chat, Tagebuch, Blog etc) allerdings sehr sauber die einzelnen Erzählstränge. Letztlich war es möglicheeweise bloß der Verlag, der über die integrierte Graphic Novel hinaus alles so bunt gemacht hat. Ein bisschen übertrieben, aber am Ende doch stimmiger und vor allem inhaltlich vielschichtiger und gut beobachtet, als erwartet.
Das andere war „Sherlock Holmes. Die unautorisierte Biografie“ von Nick Rennison. In diesem Fall machte der Autor das, was Holmes maßgeblich zu seinem Renommée verholfen hat: Er betrachtet ihn als „echt“. Die Biografie ist zusammengebaut aus jenen Hinweisen, die in den Detektivgeschichten stecken, sowie realen historischen Quellen, die eine Reihe der Berichte untermauern können. Das ist wahrscheinlich aber nicht bei allen Quellen der Fall (wer kann schon nachschauen, was indische Zeitungen damals wirklich publiziert haben?) — die Grenzen verschwimmen außerordentlich gut und liefern ein wunderbares Lesevergnügen.
Welches war das Buch in diesem Jahr, von dem ich mir viel versprochen habe, das mich dann aber negativ überrascht hat?
Hier ploppen zwei Schweizer Autoren auf. Ein glasklarer Reinfall war Arno Camenisch für mich. Bisher gelang es dem Bündner, kurz und knapp zu erzählen, Stimmungen einzufangen und Geschichten zu erzählen. Mit einem Erzählstil, der manchmal zu Kreisen ausholte, Erzählenden, die manchmal keinen Zuhörer hatten. Aber immer mit einer Reflektion über das Leben und einer Art Perspektive. „Die Welt“ bringt das nicht fertig. Das Buch ist ein Rückblick auf einige wenige Reisejahre von Camenisch selbst. Alles, was übrig bleibt ist, dass der Autor offenbar wenig mit sich anzufangen wusste — außer, dass er auf gar keinen, null und gar nicht und überhaupt keinen Fall so werden wollte wie alle anderen — und daher überall mit anderen Frauen ins Bett geht. Am Ende ist Camenisch auch nicht schlauer als vorher und das Lesepublikum schaut ratlos auf die schmutzige Wäsche in Camenischs Reisekoffer.
Das andere Buch ist Thomas Röthlisberger. Hier liegt die Sache allerdings völlig anders. „Steine zählen“ war für den Schweizer Buchpreis nominiert. Und hier ist es so, dass Röthlisberger zwar ein wirklich gut und sparsam erzähltes Buch über Gewalt und Schweigen geschrieben hat — aber wäre ich Jury, hätte ich es trotzdem nicht nominiert. Das liegt hauptsächlich daran, dass ich mit Lukas Maisels Buch „Tanners Erde“ ein Buch in der Hand gehabt hatte, das ich viel lieber nominiert gesehen hätte. Auch hier ist Spachlosigkeit ein Grundthema, aber so viel universeller greifbar und einfach brilliant geschrieben.
Welches war eure persönliche Autoren-Neuentdeckung in diesem Jahr und warum?
Hier möchte ich Seraina Kobler vorstellen. Inzwischen ist sie vermutlich schon einigen Menschen bekannt, da sie bei Diogenes die Krimiserie um Rosa Zambrano veröffentlicht. Als ersten Titel von ihr kennengelernt habe ich aber „Regenschatten„, der beim Kommode-Verlag erschienen war. Kobler verlegt ihre Geschichte in eine sehr nahe Zukunft, wo die Klimaschäden täglich stark spürbare Spuren hinterlassen. Samt den Menschen, denen immer noch der eigene Bauchnabel wichtiger ist als alles andere. Bevor jemand an eine Dystopie denkt: Nein, das ist keine. Alles, was hier passiert, gibt es schon längst und wurde für das Buch nur in Zürich konzentriert. Nur ein Beispiel: Sandstürme (wegen ausgelaugter Böden) gibt es schon in unseren Breiten und die daraus folgende Massenkarambolage auf der Autobahn leider ebenfalls.
Welches Buch wollt ihr unbedingt 2023 lesen und warum?
Wie schon im Vorjahre gilt: Es wäre zu einfach, Neuerscheinungen aus dem kommenden Frühjahrsprogramm hinzuwerfen. Also werfe ich besser einen Blick auf alles, was noch ungelesen im Regal wartet. Olga Tokarczuks „Gesang der Fledermäuse“ schleppe ich bereits sträftlich lange durch die Jahre. Falls es anderen genauso geht: Schaut derweil die Video-Rezension von Seji (Riverhead Books).
Außerdem bin ich in diesem Jahr nicht zu Sibylle Ruges „Davenport 160×90“ gekommen, ein Noir aus Frankfurt. Und in der Rubrik Sachbuch stieß ich irgendwann auf „Clusterfuck“ von Holm Friebe und Detlef Gürtler. Das Buch dreht sich um die Frage, warum Katastrophen immer gehäuft aufzutreten scheinen. Umso mehr in einer übervernetzten Welt.
Welches war euer Lieblings-Cover in diesem Jahr und warum?
Eines alleine? Niemals. Wie immer also eine kleine Galerie und wer die Japantitel bis zu dieser Stelle im Artikel vermisst hat, wird hier mehr davon finden.
Mir gefällt bei Atsuhiro Yoshida und „Gute Nacht, Tokio“ sehr gut, dass die Zeichnung vom Autor selbst stammt. Keiichiro Hiranos Buch „Das Leben eines anderen“ profitiert von einer ebenfalls sehr ruhigen Gestaltung. Sie fängt durch die Spiegelung des Profils ausgezeichnet das Thema auf: Was passiert mit der Identität, wenn man einen anderen Namen annimmt und versucht, sich auch einen fremden Lebenslauf überzustülpen? Und ich möchte Mick Herron dabei haben. Eigentlich dürfte ich nicht nur „London Rules“ erwähnen. Denn die ganze Serie folgt einem, wie ich finde, fabelhaften Konzept: Netzartig gewobene Linien verbinden sich über die einzelnen Cover hinweg. Schaut beim genannten Link doch einfach einmal unten im Beitrag nach.
Bei „Kork“ hat mich das Buch zwar überhaupt nicht überzeugt, dafür aber das Cover sehr. Der bei Kanon übliche Affe darf hier mit einer Weinflasche spielen und passend gestanzte Löcher im Schutzumschlag imitieren Weintrauben. Die Farben spielen auf all den Rot- und Weißwein an, der im Buch zum Sinnieren über das Leben getrunken wird. Machen wir weiter mit Essen und Trinken, landen wir bei „Butter“ von Asako Yuzuki. Diese Haare … ! Noch mehr Nahrung gibt es bei Kanae Minatos Cover zu „Schuldig„. Eigentlich geht es um einen Studenten, der sich nach dem Tod eines Kommilitonen für dessen Leben interessiert. Man fragt sich ein ganzes Buch lang, wie Cover und Buch zusammenhängen könnten – oder ist es schlicht eine Motivkopie des Titels „Geständnisse“?
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Titelbild: Graham Powell Wood, unsplash