Mir ist es traditionell ein großes Vergnügen, mein Lesejahr zu rekapitulieren. So viele Bücher habe ich in diesem Jahr gar nicht auf dem Blog vorgestellt und doch war es beim Blättern für den Jahresrückblick 2023 interessant zu schauen, welche davon sich gut im Gedächtnis gehalten haben und welche überraschend schnell verblasst sind.
Die Fragen hole ich mir -wie gewohnt- aus vergangenen Rückblicken. Sie sind ideal, wie ich finde, um ein Lesejahr aus unterschiedlichen Perspektiven Revue passieren zu lassen. Ursprünglich stammen sie von der „BlogSaiten“-Blogparade (die es meines Wissens nicht mehr gibt).
Welches war das Buch in diesem Jahr, von dem ich mir wenig versprochen habe, das mich dann aber positiv überrascht hat?
So richtig überrascht hat mich Tine Melzer mit „Alpha Bravo Charlie„. Dünne Bücher ziehen mich immer an, doch zunächst packte mich die Story überhaupt nicht. Ich spielte gar mit dem Gedanken, abzubrechen. Ein Glück, dass ich mir das anders überlegt habe. Denn je weiter ich kam und je mehr ich über das Buch nachdachte, umso mehr merkte ich, wie Melzer große Themen im kleinen Rahmen verpacken konnte. Inzwischen firmiert „Alpha Bravo Charlie“ unter den Buchtipps.
Ganz anders erging es mir mit „Das Restaurant der verlorenen Rezepte“ von Hisashi Kashiwai. Ich hatte ein wenig Sorge, dass ich einen arg sentimentalen Roman vor mir haben würde. Doch ein Kitschkaliber wie „Die Katze, die von Büchern träumte“ hatte ich nicht vor der Nase. Nur ein kleines bisschen vielleicht. Dabei versucht der Restaurantbesitzer tatsächlich zu ermitteln, berichtet dabei von regionalen Spezialitäten und tradionellen Zubereitungsmethoden und Einkaufsroutinen (nicht zu vergessen: das Buch ist für japanisches Publikum geschrieben worden). Dabei verrät der Inhaber und Koch gleichzeitig viel gesunden Menschenverstand und weiß, gute Geschichten zu erzählen.
John Hersey passt nicht in diese Reihe, weil ich mir nicht „wenig versprochen“ habe. Eher wusste ich nicht, was mich überhaupt erwarten würde. Aber ich fände es nicht richtig, „Hiroshima“ nicht in diesem Rückblick zu erwähnen. Denn mit seiner Reportage, die ein Jahr nach dem Atombombenabwurf in den USA erschienen war, brachte er den verheerenden Abwurf mit seinen bis anhin nie dagewesenen Schäden auf einen Schlag ins Licht der Öffentlichkeit. Hershey hat die Reportage so verfasst, dass sie trotz seiner journalistischen Herangehensweise eine große Nähe zu den Opfern erzeugt. Keine leichte Kost. Aber unbedingt empfehlenswert und zeitlos wichtig.
Welches war das Buch in diesem Jahr, von dem ich mir viel versprochen habe, das mich dann aber negativ überrascht hat?
Mit der Geschichte New Yorks ist untrennbar der Name von Andrew Haswell Green verbunden. „Der große Fehler“ von Jonathan Lee sollte diesem Stadtplaner ein Denkmal setzen. Tut er insofern, da Green natürlich die Hauptperson ist. Es ist jedoch schlussendlich eher das Portrait einer Gesellschaft, die Klassen- und Rassentrennung lebt und Homosexualität ablehnt. Für mein Empfinden hätte die Hauptperson also so ziemlich jeder Geschäftsmann sein können, auf den das zutrifft und es wäre in jedem Fall eine ebenso traurige Geschichte über einen zeitlebens einsamen Menschen geworden.
Banana Yoshimotos Roman „Ein seltsamer Ort“ habe ich möglicherweise nicht verstanden. Außerirdische, zombieähnliche Wesen und ein kompliziertes Prozedere, um ewig schlafende Menschen aus diesem Schlaf zu holen? In dieselbe Kategorie rutscht Ayanna Lloyd Banwo mit „Als wir Vögel waren„. Genauso viel Mythik, nur eine andere Art. Und damit auch einfach nur eine andere Art, ein Buch nicht zu verstehen.
Welches war eure persönliche Autoren-Neuentdeckung in diesem Jahr und warum?
Obwohl ich von Charles Lewinsky bereits vor zwei Jahren ein Buch gelesen hatte, würde ich ihn erst in diesem zu den Neuentdeckungen stecken. Das damalige Buch war ein persönlicher Rückblick auf zwölf seiner Romane und die Frage, wie viel „Lewinsky“ steckt in seinen Büchern. Dieses Jahr hatte ich mit „Rauch und Schall“ den ersten Roman von ihm in der Hand und mir gefiel der Schalk im Nacken, mir dem er seine Figuren zeichnete. Dieser Faktor spielte für mich zwar auch damals schon eine Rolle, doch Humor auch in einem Roman so gut umzusetzen, brachte das Vergnügen nochmal auf ein neues Level.
Mit seiner bissigen Satire „Der gemeine Lumpfisch“ gehört auch Ned Beauman in diese Aufzählung. Der Roman über die irrwitzigen Verrenkungen von Wirtschaft und Politik, um Umweltschutz auf Biegen und Brechen zu vermeiden, wurde 2023 sogar zu den Wissensbüchern des Jahres gewählt. Mir gefällt’s, denn Beauman schrieb eben nicht nur einen rasanten und bitteren Roman über die Jagd nach einer aussterbenden Spezies. Er seziert zugleich die Methoden, mit denen Umwelt- und Klimaschutz ganz gezielt unterlaufen werden.
Welches Buch wollt ihr unbedingt 2024 lesen und warum?
Während ich im vorigen Jahr recht sparsam war mit dem Japan-Anteil meines Rückblicks, geht es in diesem Jahr in die Vollen. „Before the Coffee gets cold“ von Toshikazu Kawaguchi sollte ich endlich lesen. Das Buch existiert in meinem Haus doppelt. Eine deutsche Fassung, eine englische Fassung. Die englische habe ich gekauft, weil ich nie weiß, ob ein japanisches Buch jemals den Weg ins Deutsche findet. Da war ich bei Kawaguchi eine echte Trendsetterin, doch es hat wenig genutzt. Denn gelesen ist es ja nicht. Eines meiner Familienmitglieder kaufte sich einige Monate später die deutsche Fassung – und wir beide sind inzwischen „mit dem Lesen hinterher“.
Ein anderes „unbedingt“ gilt Andreas Neuenkirchen. Sehr zufällig stieß ich erst vor wenigen Wochen auf „Codename Sempo“, das Ende 2022 erschienen war und mir jedoch nirgends in die News gespielt wurde. Warum nur? Neuenkirchen schreibt über einen japanischen Diplomaten, der im Zweiten Weltkrieg zahlreichen jüdischen Flüchtlingen die Ausreise nach Japan ermöglicht hatte.
Welches war euer Lieblings-Cover in diesem Jahr und warum?
Die Kategorie „ganz schlicht“ führt in diesem Jahr die Aufzählung an: „Clusterfuck„. Ein Cover, das an die klassische Packung der „Welthölzer“-Schachteln erinnert und an die großen Flammen, die mit einem kleinen Zündholz aus einer kleinen Schachtel gemacht werden können. Passt ausgezeichnet zum Thema. Schlicht sind auch die nächsten Motive. Bei Rin Usami gefällt mir die Idee der Unschärfe; für mich transportiert sie die Möglichkeit, mit dem Teenager Akari könnte so ziemlich jedes junge Mädchen gemeint sein. Das Titelbild von „Hiroshima“ entwickelte seine Besonderheit erst nach der Lektüre. Die abgebildete Geta-Sandale stammt aus dem Museum — man muss sich nun nur noch vorstellen, wer sie am Morgen des 6. August 1945 getragen haben könnte …
„Suzukis Rache“ mag ich wegen des optischen Effekts: Das Bild, auch im Original bei Nacht aufgenommen, glüht dank der Nachbearbeitung durch den Verlag richtiggehend. Tracey Williams‘ „Adrift“ bringt auf wunderbare Art die Überraschungen des „beachcombings“ aufs Titelbild. Eine bunte Mischung aus natürlichem Strandgut und den Fundstücken aus der Havarie der Tokio Express, die Anlass für die langjährigen und intensiven Recherchen der Autorin war. Die ganze Illustration des Buches ist darauf ausgelegt, diese üppige Vielfalt auf dem Papier darzustellen. Und zu guter Letzt möchte ich das halb verspielte, halb golden veredelte Cover vom „Restaurant der verlorenen Rezepte“ hier einreihen. Mir genügen schon die stilisierten Nudeln oder das angedeutete halbe Ei, um Lust auf eine Schüssel Udon oder Tonkatsu zu bekommen. Oder auch Ramen.
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Titelbild: Michael Skok, unsplash